Zeile 11: |
Zeile 11: |
| Zu dieser Gruppe zählten folgende Protagonisten: | | Zu dieser Gruppe zählten folgende Protagonisten: |
| | | |
− | * Werner Achelis (1897 - 1982), Dozent und Abteilungsleiter am Deutschen Institut für Psychologische Forschung und Psychotherapie in Berlin | + | * Werner Achelis (1897-1982), Dozent und Abteilungsleiter am Deutschen Institut für Psychologische Forschung und Psychotherapie in Berlin |
− | * Werner Kollath (1892 - 1970), Ordinarius für Hygiene in Rostock | + | * Werner Kollath (1892-1970), Ordinarius für Hygiene in Rostock |
− | * Friedrich E. Haag (1896 - 1945), Ordinarius für Hygiene in Gießen | + | * Friedrich E. Haag (1896-1945), Ordinarius für Hygiene in Gießen |
− | * Heinz Zeiss (1888 - 1949), (zunächst kommissarischer) Leiter des Hygiene-Instituts der Universität Berlin | + | * Heinz Zeiss (1888-1949), (zunächst kommissarischer) Leiter des Hygiene-Instituts der Universität Berlin |
− | * Karl Pintschovius (1895 - 1976), Heerespsychologe im Dienst der Wehrmacht | + | * Karl Pintschovius (1895-1976), Heerespsychologe im Dienst der Wehrmacht |
− | * Rudolf Bilz (1898 - 1976), Neuropathologe und Psychotherapeut, Mitglied des Berliner psychotherapeutischen Instituts | + | * Rudolf Bilz (1898-1976), Neuropathologe und Psychotherapeut, Mitglied des Berliner psychotherapeutischen Instituts |
− | * Hildegard Hetzer (1899 - 1991), Pionierin auf dem Gebiet der Entwicklungspsychologie | + | * Hildegard Hetzer (1899-1991), Pionierin auf dem Gebiet der Entwicklungspsychologie |
| | | |
− | Roelcke (1995) beschreibt am Beispiel der Publikationen von Achelis die Denkstruktur der Befürworter der 'Zivilisationsschadenstheorie'<ref name='roelcke'/>. Achelis knüpfte mit seinen Äußerungen an die Ideen Oswald Spenglers aus den 1920er Jahren an, die dieser in seinem Werk 'Der Untergang des Abendlandes' veröffentlicht hatte: <ref>Spengler O (1918/1922): Der Untergang des Abendlandes. München, 1972</ref> Danach sind Kultur und Zivilisation zwei aufeinander folgende Phasen der Entwicklung einer Gesellschaft oder Nation, wobei die Phase der Kultur als Zustand der Blüte und inneren Kohärenz, die Phase der anschließenden Zivilisation dagegen als Prozess zunehmender Degeneration aufgefasst werden. | + | Roelcke (1995) beschreibt am Beispiel der Publikationen von Achelis die Denkstruktur der Befürworter der 'Zivilisationsschadenstheorie'<ref name='roelcke'/>. Achelis knüpfte mit seinen Äußerungen an die Ideen Oswald Spenglers aus den 1920er Jahren an, die dieser in seinem Werk 'Der Untergang des Abendlandes' veröffentlicht hatte.<ref>Spengler O (1918/1922): Der Untergang des Abendlandes. München, 1972</ref> Danach sind Kultur und Zivilisation zwei aufeinander folgende Phasen der Entwicklung einer Gesellschaft oder Nation, wobei die Phase der Kultur als Zustand der Blüte und inneren Kohärenz, die Phase der anschließenden Zivilisation dagegen als Prozess zunehmender Degeneration aufgefasst werden. |
| | | |
| Für Achelis war der 'Kulturzustand' durch festgefügte soziale und religiöse Bindungen gekennzeichnet, was dem Menschen ein äußeres und inneres Gleichgewicht und somit seelische Gesundheit gewährleiste. Zivilisation sei demgegenüber ein Vorgang der Entwurzelung, der durch Entseelung, Verstädterung und Vertechnisierung gekennzeichnet sei und schließlich zur Degeneration führe. Den Beginn dieses Prozesses definierte Achelis zeitlich durch die Inthronisation der Göttin der Vernunft im Rahmen der französischen Revolution. In der Folge dieser Entwicklung sei der Mensch in der Zivilisation einerseits der Verdrängung des Irrationalen ausgesetzt, andererseits verfüge er durch die Beherrschung der äußeren Natur über mehr technische Hilfsmittel als im Natur- oder Kulturzustand. | | Für Achelis war der 'Kulturzustand' durch festgefügte soziale und religiöse Bindungen gekennzeichnet, was dem Menschen ein äußeres und inneres Gleichgewicht und somit seelische Gesundheit gewährleiste. Zivilisation sei demgegenüber ein Vorgang der Entwurzelung, der durch Entseelung, Verstädterung und Vertechnisierung gekennzeichnet sei und schließlich zur Degeneration führe. Den Beginn dieses Prozesses definierte Achelis zeitlich durch die Inthronisation der Göttin der Vernunft im Rahmen der französischen Revolution. In der Folge dieser Entwicklung sei der Mensch in der Zivilisation einerseits der Verdrängung des Irrationalen ausgesetzt, andererseits verfüge er durch die Beherrschung der äußeren Natur über mehr technische Hilfsmittel als im Natur- oder Kulturzustand. |
| | | |
− | Nach Achelis war das historische Resultat des Zivilisationsprozesses neben Landflucht, Sittenzerfall und Geburtenrückgang ein gesteigertes Risiko des Individuums bezüglich Verschleißkrankheiten des Gefäß-, Magen-, Darm-, Drüsen- und Nervensystems über Genussgiftsucht bis hin zur allgemeinen Nervosität. Dazu kamen seiner Meinung nach sexueller Identitätsverlust, besonders in Form der Homosexualität in der sozialpolitisch bedeutsamen Form der Epidemie. Auch das Extrem der Weimarer Republik verkörperte nach Achelis den Zivilisationsschaden, wobei bereits die Demokratie als dekadent und pathogen betrachtet wurde. | + | Nach Achelis war das historische Resultat des Zivilisationsprozesses neben Landflucht, Sittenverfall und Geburtenrückgang ein gesteigertes Risiko des Individuums bezüglich Verschleißkrankheiten des Gefäß-, Magen-, Darm-, Drüsen- und Nervensystems über Genussgiftsucht bis hin zur allgemeinen Nervosität. Dazu kamen seiner Meinung nach sexueller Identitätsverlust, besonders in Form der Homosexualität in der sozialpolitisch bedeutsamen Form der Epidemie. Auch das Extrem der Weimarer Republik verkörperte nach Achelis den Zivilisationsschaden, wobei bereits die Demokratie als dekadent und pathogen betrachtet wurde. |
| | | |
− | Achelis war deshalb der Meinung, dass die größte Aufgabe für die Zukunft der Kampf gegen das Gespenst einer alleinseligmachenden Vernunft sei. Als Maßnahmen empfahl er Schutz und Festigung der gesunden Familie als der Keimzelle des Volkes und das Prinzip der germanischen Führeridee, das auf allen Organisationsstufen des sozialen Verbandes wieder zur Geltung gebracht werden müsse. Diese Maßnahmen sollten seiner Ansicht nach durch eine Aufwertung der modernen [[Naturheilkunde]] und einer Ausweitung der psychologischen Betreuung, unterstützt durch die Tätigkeit z.B. einer Zentralstelle für psychologische Bekämpfung von Zivilisationsschäden, erreicht werden. <ref>Zeiss; H.; Pintschovius; K., (Hrsg.); Achelis W.: Zivilisationsschäden am Menschen, Lehmanns, Berlin, München, 1944</ref> | + | Achelis war deshalb der Meinung, dass die größte Aufgabe für die Zukunft der Kampf gegen das Gespenst einer alleinseligmachenden Vernunft sei. Als Maßnahmen empfahl er Schutz und Festigung der gesunden Familie als der Keimzelle des Volkes und das Prinzip der "germanischen" Führeridee, das auf allen Organisationsstufen des sozialen Verbandes wieder zur Geltung gebracht werden müsse. Diese Maßnahmen sollten seiner Ansicht nach durch eine Aufwertung der modernen [[Naturheilkunde]] und eine Ausweitung der psychologischen Betreuung, unterstützt durch die Tätigkeit z.B. einer Zentralstelle für psychologische Bekämpfung von Zivilisationsschäden, erreicht werden.<ref>Zeiss; H.; Pintschovius; K., (Hrsg.); Achelis W.: Zivilisationsschäden am Menschen, Lehmanns, Berlin, München, 1944</ref> |
| | | |
− | Als Vermeidung von vermeintlichen Zivilisationsschäden sah die in der Mitte des 19. Jahrhunderts entstandene Lebensreformbewegung, die den Menschen wieder in einen Naturzustand zurückführen will. Dazu bediente man sich unter anderem der Naturheilkunde (zum Beispiel [[Impfgegner|Verzicht auf Impfungen]], da Infektionskrankheiten eine Art Reinigungsprozess der Natur wären, Homöopathie und [[Kneipp-Therapie|Kneippkuren]]), Reformkleidung, Freikörperkultur, Ernährungsreform (zum Beispiel Vollwertkost, Vegetarismus), Bildung von Landkommunen (Öko-Landbau) und Reformpädagogik. (siehe auch den [http://de.wikipedia.org/wiki/Lebensreform Wikipedia-Eintrag zu „Lebensreform“])
| + | Die Vermeidung von vermeintlichen Zivilisationsschäden strebte auch die in der Mitte des 19. Jahrhunderts entstandene Lebensreformbewegung an, die den Menschen wieder in einen Naturzustand zurückführen wollte. Dazu bediente man sich unter anderem der Naturheilkunde (zum Beispiel [[Impfgegner|Verzicht auf Impfungen]], da Infektionskrankheiten eine Art Reinigungsprozess der Natur seien, Homöopathie und [[Kneipp-Therapie|Kneippkuren]]), Reformkleidung, Freikörperkultur, Ernährungsreform (zum Beispiel Vollwertkost, Vegetarismus), Bildung von Landkommunen (Öko-Landbau) und Reformpädagogik (siehe auch den [http://de.wikipedia.org/wiki/Lebensreform Wikipedia-Eintrag zu „Lebensreform“]). |
| | | |
| ==Die NSDAP als Sammelbecken der Akteure der Zivilisationsschadenstheorie== | | ==Die NSDAP als Sammelbecken der Akteure der Zivilisationsschadenstheorie== |