Vitalismus

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Vitalismus, Lebenskraft (vis vitalis) ist ein historisches Konzept der Medizin, das in einigen pseudomedizinischen Lehren weiterhin eine Rolle spielt.

An der Wende zum 18. Jahrhundert traten zu den eben genannten "iatrochemischen" Konzepten auch animistische oder vitalistische Theorien hinzu. Sie legten Wert auf die Unterscheidung der lebenden Zelle von toter, unbelebter Materie. Zwar gab es schon in der Antike die verschiedensten Bezeichnungen wie Pneuma (Galen), Archaeus (Paracelsus), Spiritus, Anima oder Entelechie und auch für Galen (130-201 n. Chr.) war die 'animalische Seele' die Erhalterin des Lebens.[1] Aber bei ihm befand sich die Lebenskraft noch in der Luft, wurde als Lebenshauch mit dem Atem eingezogen und erneuerte die innere Lebenskraft im Körper dort, wo sie angeblich verbraucht war. Gerade diese Gedankenwelt wird heute im Bereich esoterischer Verfahren wie spiritual healing (Geistheilung), Touch for Health oder Reiki weiter benutzt.

Im Mittelalter wird die Lebenskraft eher spiritistisch-magisch betrachtet. Für Johann Baptist van Helmont (1579-1644) saß der Archaeus beispielsweise im Magen und wurde zum Allwirker und Ordner im Organismus.[2] Er wollte diese Kraft durch die Gabe von Aloe, Myrrhe, Safran und dem nicht gerade harmlosen Antimontrisulfid (Grauspießglanz) stärken. Bei der Behandlung von 'Zauberkrankheiten', die die Lebensgeister störten, verwendete er Brunnenkresse (Nasturtium officinale) oder Flohknöchterich (Polygonum persicaria). Er empfahl aber auch Kupfervitriol, Arsenik, Schwefel und Salz.

Der Vitalismus

Einer der heute noch bekanntesten Vitalisten, Georg Ernst Stahl (1659-1734), sah die Krankheit entweder als Schädigung der Organe, als ein Verderben der Säfte oder als eine Störung der Seele. In seinem 1708 erschienen Werk 'Theoria Medica Vera' machte er einen Mangel der Bewegungsorgane als Ursache für Krankheiten - der Schädigung des unkörperlich gedachten 'Motus vitales' - aus. Auf ihn dürfte die z.B. in der Homöopathie sich auch heute noch spiegelnde Denkweise zurückzuführen lassen, nachdem die Natur als Heilerin aller Krankheiten sei und man diese durch Stärkung der Selbstheilungskräfte heilen könne. Folgerichtig plädierte Stahl dafür, Symptome wie Erbrechen, Blutungen oder Durchfall nicht zu bekämpfen, sondern sogar noch zu begünstigen. Dabei sprach er sich für den Aderlass, für den Einsatz von Abführmitteln und auch für die Gabe von Quecksilberpillen zur Sekretionsanregung aus. Als 'blutzerteilende' Mittel empfahl er Krebsaugen, eine Antimontinktur und versüßten Salpetergeist. Sonderlichen Zulauf erfreuten sich Stahls animistische Vorstellungen in Deutschland nicht. Seine Lehren wurden aber in Frankreich durch Francois Boissier de Sauvages (1706-1767), Theophile de Bordeu (1722-1776) und Joseph P. Barthez (1734-1806) aufgenommen, modifiziert und als vitalistische Lehren weiterverbreitet.

Das Konzept der Lebenskraft

Das Wort "Lebenskraft" findet sich erstmalig 1775 bei Casimir Medicus aus Mannheim. Caspar Friedrich Wolf prägte 1789 den Begriff der "vis essentialis".[3] Der thüringische Arzt Christoph Wilhelm Hufeland (1762-1836), der Leibarzt der preußischen königlichen Familie und Direktor des "Collegium medico-chirurgicum" mit großem Einfluss auf das preußische Medizinalwesen war und in Weimar, Jena und Berlin praktizierte, entwickelte ein neues System zur Erklärung des menschlichen Körpers - das Prinzip der Lebenskraft. Sie bestand aus

  • einer erhaltenden Kraft,
  • einer bildenden und regenerierenden Kraft,
  • einer Lebenskraft des Blutes,
  • einer die allgemeinene Reizfähigkeit bewirkende Kraft,
  • einer Nervenkraft,
  • und einer die spezifische Reizfähigkeit bewirkende Kraft.

Nach Hufelands Theorie war Krankheit eine Beeinträchtigung der "reizbaren" Lebenskraft durch krankmachende Reize, deren Symptome sich als heilende Reaktion dieser Lebenskraft auf die Krankheitsreize darstellten. Der therapeutische Einsatz des Arztes bestand demnach stets in der Unterstützung der Lebenskraft.

Die Begriffe der "Reizbarkeit" oder "Irritabilität", die bereits zuvor von Francis Glisson (1597-1677) erwähnt wurden, wurden durch Experimentalarbeiten Albrecht von Hallers (1708-1777) ausgeweitet und waren zu Beginn des 18. Jahrhunderts in aller Munde. Der schottische Arzt John Brown (1735-1788) vereinfachte im sog. 'Brownianismus' diese Einflußfaktoren in einem simplen Erklärungssystem:

Brown verstand das Leben als einen durch innere und äußere Reize erregten und aufrechterhaltenden Zustand, wobei Reiz- und Erregbarkeit die Basis darstellten. Krankheit und Gesundheit waren demnach als Fähigkeit des Organismus zu verstehen, angemessen auf diese Reize zu reagieren. Würde eine Reizüberflutung stattfinden, käme es zu einer Abnahme der Erregbarkeit und somit indirekt zu Schwäche. Umgekehrt würde ein Reizmangel eine Zunahme der Erregbarkeit bewirken und somit eine direkte Schwäche erzeugen. Ziel war demnach ein Gleichgewicht zwischen Reizüberflutung und Reizmangel zu erreichen.

Der englische Arzt und bekannte Chirurg William Cullen (1712-1790) entwickelte ähnliche Vorstellungen. Zur Zeit der deutschen Romantik vertraten Andreas Röschlaub (1712-1790) und Friedrich Wilhelm Schelling (1775-1854) die Thesen des Brownianismus.

Das Konzept der Lebenskraft konnte allerdings nicht dauerhaft etabliert werden. Johann C. Reil (1759-1813) aus Halle vertrat schon 1796 die Meinung, dass man über diese Kraft nichts aussagen könne, solange die Chemie keine Auskunft über die Grundstoffe des Körpers und ihrer Eigenschaften gäbe.[4]

Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts - begründet durch Hans Driesch (1867-1941) und basierend auf den Lehren von Gustav von Bunge (1889) - trat der sog. Neovitalismus in Erscheinung. Als Grundlage der Autonomie der Lebensvorgänge wurde die Entelechie, eine Art zielbewusster Fähigkeit jeden lebendigen Wesens, angesehen. Das Leben war demnach eine Erscheinung seelischer Art. Auf die medizinische Therapie hatten diese neovitalistischen Vorstellungen aber keinen Einfluss.[5]

Lebenskraft in der Homöopathie

Vitalist war auch der Erfinder der Homöopathie, Samuel Hahnemann. Hahnemanns Lehre hat sich als einziges vitalistisches Krankheits- und Therapiekonzept des 18./19. Jahrhunderts in die heutige Zeit hinüberretten können. Für ihn war Krankheit ein Geschehen dynamischer Natur, bei dem die Lebenskraft Veränderungen immaterieller Natur erfährt. In den letzten Auflagen seines Werks "Organon der Heilkunst" beschreibt Hahnemann die "Verstimmung der Lebenskraft" als Krakheitsursache. Dementsprechend bemühte sich Hahnemann "Gegenkräfte des Körpers" anzuregen und die Heilung durch anregende bzw. dämpfende Reize herbeizuführen.[6] Anhänger der klassischen Homöopathie nach Hahnemann sehen Heilungen nicht direkt durch die Anwendung homöopathischer Arzneimittel, sondern durch eine "Korrektur der Lebenskraft". Das ähnliche Arzneimittel soll demnach beim Erkrankten die Lebenskraft, die unsichtbar und nur an ihren Wirkungen zu erkennen sei, wieder in "geordneten Bahnen fließen lassen".[7][8] Die Grundtheorie der Erkrankungsentstehung bei Hahnemann stimmt mit dem Konzept des Brownianismus überein. Nur die therapeutischen Konsequenzen (Hahnemann: ähnliches mit ähnlichem heilen versus Brownianismus: Gleichgewicht zwischen Reizüberflutung und Reizmangel anstreben) waren verschieden.

Weblinks

Quellennachweise

  1. Haas H:Ursprung, Geschichte und Idee der Arzneimittelkunde. B.I. Wissenschaftsverlag, Mannheim, Band 1, 1981
  2. Haas H:Ursprung, Geschichte und Idee der Arzneimittelkunde. B.I. Wissenschaftsverlag, Mannheim, Band 1, 1981
  3. Haas H:Ursprung, Geschichte und Idee der Arzneimittelkunde. B.I. Wissenschaftsverlag, Mannheim, Band 1, 1981
  4. Haas H:Ursprung, Geschichte und Idee der Arzneimittelkunde. B.I. Wissenschaftsverlag, Mannheim, Band 1, 1981
  5. Haas H:Ursprung, Geschichte und Idee der Arzneimittelkunde. B.I. Wissenschaftsverlag, Mannheim, Band 1, 1981
  6. Haas H:Ursprung, Geschichte und Idee der Arzneimittelkunde. B.I. Wissenschaftsverlag, Mannheim, Band 1, 1981
  7. Norbert Enders, Maria Steinbeck, Eberhard Gottsmann, Homöopathie. Eine Einführung in Bildern, Seite 56 bis 60, Karl F. Haug Verlag, 1996, ISBN 3-7760-1559-4
  8. Edeltraut und Peter Friedrich, Charaktere homöopathischer Arzneimittel Band 3, Seite 9, Traupe-Vertrieb, 1999, ISBN 3-9802834-3-7
Dieser Text ist ganz oder teilweise von Paralex übernommen