Osteopathie

Aus Psiram
Version vom 17. Mai 2008, 10:50 Uhr von Rincewind (Diskussion | Beiträge) (Die Seite wurde neu angelegt: Die der osteopathischen Medizin zugrunde liegenden Vorstellungen gehen auf den US-amerikanischen Chirurgen und Arzt Andrew Taylor Still zurück, der in Kirksville/Misso...)
(Unterschied) ← Nächstältere Version | Aktuelle Version (Unterschied) | Nächstjüngere Version → (Unterschied)
Zur Navigation springen Zur Suche springen

Die der osteopathischen Medizin zugrunde liegenden Vorstellungen gehen auf den US-amerikanischen Chirurgen und Arzt Andrew Taylor Still zurück, der in Kirksville/Missouri im Jahre 1892 das erste medizinisch-osteopathische College gründete, nachdem er seine osteopathischen Thesen erstmals 1874 verkündet hatte. Zu seiner Zeit steckte die Hochschulmedizin noch in den Kinderschuhen, in den USA dominierten noch die säftepathologischen Behandlungsweisen aus dem Mittelalter.

Still hatte zu Lebzeiten recht seltsame Ansichten über die Wirksamkeit seiner Methode. So schrieb er in seiner Autobiographie shake a child and stop scarlet fever, croup, diphtheria, and cure whooping cough in three days by a wring of its neck.

Solche fragwürdigen Ansichten sind medizinhistorisch jedoch typisch für die Zeit, in der Still lebte. Offenbar sah er die therapeutische Welt nur aus der vereinfachten chirurgischen Perspektive und erklärte sich nach dem Aufbau eines eigenen Denksystems die Krankheiten als Folge von Veränderungen der Knochen und Organe. Dass dieses begrenzte System nur einen kleinen Teil der tatsächlichen Abläufe im menschlichen Organismus beschreibt, ist auch dem medizinischen Laien offensichtlich. Wird solch ein Ansatz aber mit genügender Wucht verbreitet, ist er geeignet, einfache Gemüter in seinen Bann zu ziehen.

Die Verknüpfung zwischen Ausbildungssystem und therapeutischer Anwendung, also das Geldverdienen mittels Ausbildungsgebühren derjenigen, die die Still'sche Therapie erlernen wollten, ist eine der Säulen, auf der die Osteopathie ruht. Mit dieser Taktik gelang es Still (wie auch vielen anderen Ärzten, die ähnliche Systeme etablierten), sich genügend Finanzmittel zu beschaffen, um sein System weiter auszubreiten. Dies geschah vor dem Hintergrund, dass es in den USA historisch bedingt keine einheitliche, hochschulmedizinische, universitäre Ärzteausbildung gibt, wie sie z.B. in den meisten EU-Ländern vorhanden ist. Im Gegenteil, es gibt in einigen Bundesstaaten die Möglichkeit, an naturopathischen Einrichtungen eine vollgültige Ausbildung zu absolvieren. Danach kann man sich als (naturopathischer) Arzt bezeichnen und beruflich tätig werden. Ein solches Studium ist nach Gugliemo (1998) gegenwärtig an 19 Hochschulen in den USA möglich. Möglicherweise kommt aufgrund der Vereinheitlichungstendenzen auf europäischer Ebene eine ähnliche Verschlechterung der hochschulmedizinischen Ausbildung auch in der EU in den nächsten Jahren zum tragen (Buchmann 2003). Insgesamt arbeiten in den USA heutzutage schätzungsweise 44.000 Osteopathen (Gugliemo 1998).

Die Ausbildung eines "ärztlichen Osteopathen"

Den Zugang zu einer osteopathischen Ausbildungsschule erhält man, wenn man eine dreijährige berufliche Tätigkeit ausgeübt hat. Die Aufnahme setzt eine geringere Schulausbildung voraus, als jene, die für einen konventionellen, hochschulmedizinischen Studiengang notwendig wäre. Dergleichen drückt sich in deutlich schlechteren Prüfresultaten aus. So liegt die durchschnittliche Prüfpunktzahl (Grad-Point Average = GPA) und die Prüfnote des Medical College Admission Test (MCAT) von osteopathischen Studenten üblicherweise deutlich unter denjenigen Werten, die von Medizinstudenten erreicht werden (Ross-Lee und Wood 1995, Doxey und Phillips 1997). Die durchschnittliche Anzahl an in Vollzeit tätigem Lehrpersonal in osteopathischen Ausbildungsstätten liegt gerade einmal bei 10% im Vergleich zu universitärem Lehrpersonal (Ross-Lee und Wood 1995). Zusätzlich forschen osteopathische Einrichtungen kaum und einige haben Probleme, genügend ausgebildetes Lehrpersonal bereit zu stellen (Jones 1999). Es ist also deutlich erkennbar, dass der Leistungsstand von osteopathischem Personal von Beginn an schlechter ist und deren Ausbildung desolater organisiert ist im Vergleich zu Personen, aus denen später Hochschulmediziner werden sollen.

Der Grad eines 'Doctor of Osteopathy' (DO) umfasst eine 5.000stündige Ausbildung über 4 Studienjahre. Die osteopathischen Fakultäten unterscheiden zwischen dem 'Doktor der Osteopathie' und denjenigen, die einen tatsächlichen akademischen Grad (z.B. Dr. med.) führen. Man sollte also einen DO nicht mit einem Dr. med. bzw. einem hochschulmedizinischen, an einer Universität ausgebildeten Arzt verwechseln.

Die Berufszulassung als DO erhält man nach einem weiteren Rotationsjahr an einem zugelassenen Krankenhaus. Nachfolgend kann sich der Arzt spezialisieren, z.B. an Kliniken für Innere Medizin. Seit 1993 können fertige DO's der American Academy of Family Practice beitreten, die vorher nur für hochschulmedizinische Ärzte (Dr. med.) oder DO's mit zusätzlicher hochschulmedizinischer Ausbildung offen stand (Guliemo 1998).

Osteopathische Ärzte (DO) dürfen mittlerweile in allen US-Bundesstaaten praktizieren. In einer im Januar 1995 veröffentlichten Umfrage unter 2.000 zufällig ausgewählten osteopathischen Therapeuten, die Mitglieder des American College of Osteopathic Physicians waren, gaben 6.2% der Befragten an, mehr als die Hälfte ihrer Patienten mit den osteopathischen manipulativen Techniken zu behandeln. 39.6% gaben an, diese Methode bei Fieber anzuwenden. Bezeichnend an der Umfrage war der Umstand, dass je höher der Ausbildungs- und Fortbildungsgrad der ursprünglich eine osteopathische Ausbildung absolvierende Person war, desto niedriger (!) war der Anteil jener, die noch osteopathische Methoden einsetzten (Johnson et al. 1997)

Die Inhalte der Osteopathie

Die osteopathische Medizin ist durch manuelle Diagnostik und Behandlung von angeblichen oder tatsächlichen Funktionseinschränkungen von Knochen, Gelenken und (inneren) Organen gekennzeichnet. Folgende Techniken werden eingesetzt:

mobilisierende Muskeltechniken: mit bestimmten Griffen oder Bewegungsfolgen werden Gelenkfunktionsstörungen an der Wirbelsäule und an den Extremitäten behandelt. Dabei arbeitet man mit geführten Bewegungen, gezieltem Muskelzug oder exakt bemessener äußerer Krafteinwirkung

myofasziale Techniken: da die Muskulatur mit Faszien umhüllt ist, sollen diese behandelt werden, um daraus therapeutischen Nutzen zu ziehen. Es werden weiche Zug- und Druckreize zur Normalisierung der Gewebsspannung verwendet bzw. um die Durchblutung und Beweglichkeit zu steigern

viszerale Techniken: da die inneren Organe beweglich angeordnet sind, sollen mit der Osteopathie Verspannungen der Bindegewebselemente behogen werden. Daraus leitet man den Anspruch ab, Fehlfunktionen der Organe selbst therapieren zu können, weil angeblich die freie Beweglichkeit der Organe für deren normale Funktion essentiell sei.

kranio-sakrale Techniken: es wird postuliert, dass bei Erwachsenen die Schädelknochen gegeneinander beweglich seien. Man postuliert ebenfalls einen bestimmten Rhythmus dieser Bewegung, nämlich Druckschwankungen des Liquor, der das Gehirn umhüllt.

Der Weg der Osteopathie nach Europa

Nach dem Andrew Taylor Still seine Methode vorgestellt und 1892 die erste osteopathische Schule gegründet hatte (American School of Osteopathy), die von DO Dr. William Smith geleitet wurde, wurde die Methode in späterer Zeit vom DO William Garner Sutherland und DO Harold Magoun auf den Bereich des Schädels übertragen. DO Martin Littlejohn, ein Schüler Still's, übertrug die Osteopathie 1917 nach England, wo er die British School of Osteopathy gründete. Heute ist die Osteopathie in England seit 1994 offiziell anerkannt und wird an vier Privatschulen gelehrt. In Frankreich etablierten die DO's Jacques Weischenk, Jean-Pierre Barral und Philippe Druelle als bekannteste Vertreter der Osteopathie diese Methode. Mittlerweile gibt es in Frankreich 14 osteopathische Ausbildungsstätten und einen französischen Verband für Osteopathie mit etwa 500 Mitgliedern. Es gibt noch entsprechende Ausbildungsstätten und Verbände in Belgien, Kanada (seit 1982 z.B. die Fondation Canadienne pour l'Enseignement et la Recherche en Ostéopathie in Montreal mit einem deutschen Ableger, dem Deutschen Osteopathie Kolleg). International und auch im europäischen Bereich aktiv sind folgende Organisationen: Europäisches Colleg für Osteopathie, College Sutherland, Osteopathie Akademie München, Osteopathie Schule Deutschland und Still Academy.

In Deutschland wird die Osteopathie überwiegend von Heilpraktikern ausgeübt, aber der Anteil Ärzte, die sich der Methode bedienen, steigt. Die Ausbildung zum Osteopathen ist nicht staatlich reglementiert, wird aber in der Regel gemäß eines vereinsrechtlich abgesicherten Mindeststandards, der von der Akademie für Osteopathie Deutschland (AOD) propagiert wird. Sie bietet eine berufsbegleitende Ausbildung in einer Ganztagsschule in Schlangenbad bei Wiesbaden an, die in Kooperation mit der Still Academy organisiert wird. Die Ausbildung umfasst lediglich 1.300 Stunden à 45 Minuten (also 975 Vollstunden), was weniger als 20% der in Deutschland und Europa allgemein üblichen Ausbildungszeit für Humanmediziner entspricht (ca. 5.500 Vollstunden). Man schließt als 'Osteopath D.O.' die Ausbildung ab, wobei die AOD die Absolventen nach einer eigenen Prüfungsordnung prüft. Dies ist jedoch kein staatlicher Abschluss, sondern dieser Ausbildungsgrad hat den Wert eines Vereinsdiploms.

Eine Methode ohne glaubwürdigen Wirksamkeitsnachweis

Hass-Degg et al. führten eine Evaluierung und kritische Bewertung von Studien der Osteopathie im klinischen Bereich durch. Sie kamen zu dem Resultat, dass die meisten osteopathischen Studien als Diplomarbeiten von DOs an Osteopathieschulen durchgeführt worden waren und nicht in die weltweit verfügbare medizinische Fachliteratur vorgedrungen waren. Von den insgesamt 30 gefundenen klinischen Studien erreichten 9 die vorgegebene erforderliche Mindestpunktzahl für eine Zuordnung zu Qualitätskategorien, was bedeutet, das die Studien zu schlampig organisiert oder zu schlecht berichtet worden waren, um aus ihnen einen glaubhaften Wirksamkeitsnachweis der Methode herausarbeiten zu können. Nur in 5 der 9 Studien war die osteopathische Behandlung der jeweiligen Kontrollintervention überlegen. Infolge der geringen Anzahl klinischer Studien, die die formalen Anforderungen erfüllten, lassen sich nach Hass-Degg et al. derzeit noch keine definitiven Schlüsse über die Wirksamkeit der Osteopathie ziehen.

Die osteopathische Diagnostik scheint wenig reproduzierbar zu sein. Monteiro-Ferreira et al. untersuchten die Reproduzierbarkeit osteopathischer Tests am Beispiel des Beckens, weil die meisten Studien zu diesem Thema gravierende methodische und inhaltliche Mängel aufwiesen. Ziel der Studie war es, osteopathische Tests am Becken auf ihre interindividuelle Reproduzierbarkeit hin zu untersuchen und herauszufinden, ob diese Tests geeignet sind, osteopathische Diagnosen zu erstellen. Drei Osteopathen, die zugleich ihre Ausbildung am COE in München absolviert haben, führten im Hauptversuch an 21 symptomatischen Patienten mit Schmerzen in der LBH–Region jeweils 18 ausgewählte Tests am Becken durch, die sich aus Schmerzprovokationstests, Mobilitätstests, positionellen Tests und Horchtests zusammensetzten. Die Auswertung der Reproduzierbarkeit erfolgte mit Kappa-Wert. Darüber hinaus gab jeder Therapeut nach jedem Test auf einer Skala von 0 – 10 an, wie überzeugt er von der Richtigkeit seines Testergebnisses war. Zuverlässige Ergebnisse konnte nur die Schmerzprovokationstests erzielen (Kappa-Werte bis zu 0,712). Bei den Mobilitätstests erreichte der Test der Mobilität des Iliosacralgelenks nur Kappa-Werten bis zu 0.364, was auf eine überwiegende Nichtreproduzierbarkeit schließen ließ. Die übrigen Mobilitätstests, die Tests der Muskeln und Ligamente, sowie die Positionstests mit Bestimmung der Landmarks konnten nicht überzeugen. Eine wichtige Ursache für die unterschiedlichen Testergebnisse liegt in der Ermessenstoleranz des Therapeuten, hängt also davon ab, ob er bei einer getesteten Struktur überhaupt einen Befund diagnostiziert, oder ob er die betreffende Struktur ohne Befund bewertet.

Bei Rückenschmerzen ist der Wert der osteopathischen Manipulationen über das Placeboniveau hinaus bis heute nicht glaubhaft bewiesen worden (Federspiel und Herbst 1996).