Kinesiologie

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Kinesiologie ("angewandte Kinesiologie", auch "Muskelwiderstandstestung", "Muskelwiderstandstest", "Psychokinesiologischer Muskeltest" oder "Muskelrelaxationstest" unter Vermeidung des Begriffs "Kinesiologie") ist eine esoterisch inspirierte, pseudomedizinische Diagnosetechnik, die Anfang der 1960er Jahre vom US-Chiropraktiker George J. Goodheart (1918–2008) entwickelt wurde. Ihre Befürworter behaupten, man könne über die Muskelspannung eines Patienten beim Anblick z.B. eines Medikamentes herausfinden, ob es für ihn zuträglich oder schädlich sei. Die Diagnose wird häufig erstellt, indem der Behandler eine Kraft auf den ausgestreckten Arm des Patienten ausübt und abschätzt, ob die zum Auf- oder Niederdrücken des Arms benötigte Kraft bei bestimmten zu testenden Substanzen größer oder kleiner wird.

Der hier thematisierte kinesiologische Muskeltest (bzw. der gleiche Test mit alternativen Bezeichnungen), der auch von vielen Medizinlaien durchgeführt wird, hat nichts mit den Kraftprüfungen im Rahmen der Erhebung des neurologischen Status in der Medizin zu tun. Solche Prüfungen (grobe Kraft, Feinmotorik, Halteversuch) werden in der Regel durch Neurologen durchgeführt und sind in der neurologischen Fachliteratur beschrieben. Dabei wird der Muskeltonus unter anderem gegen die Schwerkraft und gegen eine ausgeübte Kraft geprüft.

Ebenfalls nicht verwechselt werden darf die hier gemeinte Kinesiologie mit der wissenschaftlichen Bewegungswissenschaft als interdisziplinär angelegte Teildisziplin der Sportwissenschaft. Im englischen Sprachraum wird die Bewegungswissenschaft auch als "kinesiology" bezeichnet und von der "applied kinesiology" unterschieden, mit der die alternativmedizinische Methodik zumeist bezeichnet wird.

Die Enquete-Kommission "Sogenannte Sekten und Psychogruppen" des Deutschen Bundestags ordnete die Kinesiologie 1998 den "esoterischen Heilmethoden" zu.[1]

Kinesiologie aus Sicht der wissenschaftlichen Medizin

Demonstration des kinesiologischen Muskeltests in einer Broschüre zum Masterstudiengang Komplementärmedizin des Instituts für transkulturelle Gesundheitswissenschaften der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt/Oder. Dort ist allerdings nicht mehr vom kinesiologischen Muskeltest die Rede, sondern von einer "Muskelwiderstandstestung".

Mehrere wissenschaftliche Studien zeigten, dass die diagnostischen Aussagen kinesiologischer Muskeltests nicht reproduzierbar waren. Die Ergebnisse weisen häufig eine rein statistische Verteilung auf und sind vom Kinesiologen oder dem Patienten willkürlich beeinflussbar. So kamen unterschiedliche Kinesiologen nicht relevant häufiger zur gleichen Diagnose und die empfohlenen Therapien führten nicht zu einer statistisch signifikanten Verbesserung.[2][3][4][5][6][7][8] Wird ein Proband durch mehrere Kinesiologen untersucht, kommen diese zu voneinander abweichenden Diagnosen.[9] Eine einzige nicht doppelblind durchgeführte Studie ergab ein positives Testergebnis.[10]

Die Übernahme der Behandlungskosten durch einige deutsche und Schweizer Krankenkassen ist kein Beleg der Wirksamkeit einer Behandlung. Krankenkassen sind nicht dazu verpflichtet, nur wirksame Therapien zu bezahlen. In Entscheidungen zur Kostenübernahme fließen auch Überlegungen ein, wie neue Mitglieder gewonnen werden können.[11]

Beim Muskeltest bestehen Fehler- und Fälschungsmöglichkeiten sowohl auf Seiten des Therapeuten als auch des Klienten. Da der Therapeut aktiv mit seiner eigenen Muskelspannung die des Klienten prüft, kann er seinen prüfenden Druck wissentlich oder unwissentlich anpassen. Gleiches gilt für den Klienten, der seine Muskelkraft willkürlich oder unwillkürlich verändern kann. Außerdem ermüdet der getestete Muskel nach mehreren Testläufen.[12]

Die therapeutische Wirkung der Kinesiologie kann mit dem Placeboeffekt verglichen werden. Die Wirksamkeit der Kinesiologie ging in Studien (s.o.) nicht über die Wirksamkeit eines solchen Placebos hinaus, d.h. die Kinesiologie besitzt keine ursächliche Eigenwirkung. Kritiker werfen Kinesiologen deshalb vor, unzureichende Instrumente zu benutzen und zu falschen Diagnosen und falschen Therapien zu kommen, mit möglicherweise schwerwiegenden Folgen für den Patienten. Diese werden dazu ermutigt, gefährliche Therapien zu beginnen, wirksame Therapien zu spät oder gar nicht zu beginnen oder abzubrechen.[13]

Varianten

Neben tatsächlichen Varianten der oben beschriebenen Prozedur gibt es zahlreiche Spielarten der Kinesiologie, die sich hauptsächlich nur durch unterschiedliche Marketingbegriffe unterscheiden. Angeboten werden beispielsweise:

  • Entwicklungskinesiologie
  • Health Kinesiology nach Jimmy Scott
  • Kinergetics, eine Erfindung des Australiers Philip Rafferty (geb. 1948 in England), die üblicherweise als "Kombination und heilender Energie" oder ähnlich erklärt wird
  • KinesiomusiX der Firma Internationale Kinesiologie Akademie GmbH in Frankfurt, ein Angebot für Musiker
  • Life-Lines. Eine Technik zur "Biographiearbeit"; es sollen Ereignisse auf der "eigenen Lebenslinie", aber auch Einflüsse von Mond und Planeten eine Rolle spielen.
  • Musik-Kinesiologie, eine Erfindung von Rosina Sonnenschmidt und Harald Knauss, die ursprünglich vor allem für Musiker gedacht war, um z.B. Stress vor Auftritten zu verringern
  • Pädagogische Kinesiologie
  • RESET, auch R.E.S.E.T. geschrieben, steht für "Rafferty Energy System of Easing the Temporomandibular Joint" (benannt nach dem australischen Kinesiologen Philip Rafferty und von dessen Methode "Kinergetics" abgeleitet) und ist eine Methode, mit der die Kiefermuskeln entspannt und das Kiefergelenk "balanciert" werden sollen. Dazu werde über die Hände "Heilenergie" zugeführt, was ein "Lösen alter Emotionen", aber auch z.B. eine Optimierung des Wasserhaushalts des Körpers bewirke.
  • Transformationskinesiologie. Eine Psychotechnik, die es ermöglichen soll, "Blockaden" und alte Verhaltensmuster zu "transformieren"
  • Transpersonale Kinesiologie. Damit soll ein Gleichgewicht zwischen physischer, mentaler und emotionaler "Ebene" sowie einer "transpersonalen Ebene" ("höheres Ich", Seele) hergestellt werden.

Technische Hilfsmittel

KiMeter (Bild: Intec GmbH[14])
Patentierte Vorrichtung von Raymond Wise, die einen kinesiologischen Muskeltest ohne fremde Hilfe ermöglichen soll[15]

Es gab Versuche, den kinesiologischen Muskeltest mit technischen Methoden vorzunehmen. Einige Beispiele:

  • KiMeter: Mit diesem Gerät kann man laut Hersteller einen kinesiologischen Muskeltest ohne Hilfe einer zweiten Person bewerkstelligen. Dazu muss man mit dem Daumen mehrmals auf einen im Gerät eingebauten Kraftsensor drücken. Das KiMeter wird in Deutschland für etwa 170 Euro verkauft.
  • Myostatiktest: Bei dieser von der Wiener Ärztin Maria Lack und dem Ingenieur Horst Konzelmann (Firma profi-systems, 72189 Vöhringen) im Zusammenhang mit dem Bi-Digitalen O-Ring Test vorgestellten Methode wird die Fingerkraft und die Reaktionszeit gemessen. Der Patient muss dazu zwei zangenartige Hebel mit den Fingern zusammendrücken.[16] Die Methode soll eine Objektivierung der Muskeltests ermöglichen. Dennoch werden viele Faktoren genannt, die das Ergebnis beeinflussen können, z.B. Müdigkeit, Flüssigkeitsmangel, Narben, Brillen, die Temperatur von Getränken, "Stühle, bei denen das Metall die Körpermitte kreuzt" und Schuhe mit hohen Absätzen.
  • JET System, auch "4U2C Test Device" oder "Smart Stick Tester": Ein Federkraftmesser, der äußerlich einer durchsichtigen Fahrradluftpumpe mit aufgedruckter Skala ähnelt und in Verbindung mit Kursen zur "JET Technique for Kinesiology" von einer Firma JSI Institute of Michigan in den USA verkauft wird.[17]
  • Eine kuriose Erfindung des Kanadiers Raymond Wise,[15] die ebenfalls einen kinesiologischen Muskeltest ohne Hilfsperson ermöglichen soll. Der zu testende Arm wird dabei durch eine Schlaufe geführt, die mit einem Fußpedal verbunden ist. Der ausgestreckte Arm wird dann mit Fußkraft heruntergedrückt. Wise beruft sich auf Bücher des australischen Psychiaters und Kinesiologen John Diamond.
  • "Behavioral-kinesiologische Messvorrichtung" des Schweizer Erfinders Hugo Degen, der bis 2004 für die Lattoflex Sitz- und Liegemöbel AG tätig war. Es handelt sich um einen Hebel, der an einem verformbaren Behälter befestigt ist, der eine Flüssigkeit enthält. Beim Bewegen des Hebels, der durchsichtig und mit einer Skala versehen ist, steigt die Flüssigkeit im Hebel je nach aufgewendeter Kraft unterschiedlich hoch auf.[18] Bewährt habe sich die Vorrichtung beispielsweise zur Wahl eines geeigneten Schlafplatzes und bei der "Verträglichkeitsprüfung von Medikamenten und Nahrungsmitteln".
  • Dynamometer des italienischen Erfinders Mario Ambrosone. Wie beim Myostatik-Test muss der Patient zwei Hebel, die dem Griff einer Zange ähneln, zusammendrücken. Die ausgeübte Kraft wird elektronisch gemessen.[19]

Weblinks

Anderssprachige Psiram-Artikel

Quellennachweise

  1. Deutscher Bundestag: Endbericht der Enquete-Kommission "Sogenannte Sekten und Psychogruppen". Drucksache 13/10950, 9. Juni 1998
  2. Kenney JJ, Clemens R, Forsythe KD (1988): Applied kinesiology unreliable for assessing nutrient status. J Am Diet Assoc 88(6):698-704, PMID 3372923
  3. R Lüdtke (2001): Test-retest-reliability and validity of the kinesiology muscle test. Complementar ther med 9:141, PMID 11926427
  4. HJ Staehle, MF Koch, T Pioch (2005): Doubleblind Study on Materials Testing with Applied Kinesiology. J Dent Res 84(11), 1066-1069, PMID 16246943 (zm 96, Nr. 19, 1. Oktober 2006, Seite 52-58)
  5. MH Friedman (1981): Applied kinesiology - double-blind study. Prosthetic dentistry 42, 321
  6. JS Garrow (1988): Kinesiology and food allergy. BMJ 296:1573
  7. M Haas (1994): Muscle testing response to provocative vertebral challenge and spinal manipulation: a randomized controlled trial of construct validity. J manip physiol ther 17:141
  8. R Pothmann (2001): Evaluation der klinisch angewandten Kinesiologie bei Nahrungsmittel-Unverträglichkeiten im Kindesalter. Forsch Komplementärmedizin Klass Naturheilk 8:336-344
  9. Edzard Ernst (2005): Komplementärmedizinische Diagnoseverfahren. In: Deutsches Ärzteblatt, 2005; 102(44). online
  10. DA Monti, J Sinnott, M Marchese, EJ Kunkel, JM Greeson (1999): Muscle test comparisons of congruent and incongruent self-referential statements. Percept Mot Skills 88(3 Pt 1):1019-28, PMID 10407911
  11. Edzard Ernst (2007): Falsch verstandene "Patientenfreundlichkeit". In: MMW - Fortschritte der Medizin 8, 55
  12. B Wüthrich (2005): Unproven techniques in allergy diagnosis. Journal of investigational allergology & clinical immunology 15, 86-90, PMID 16047707 PDF
  13. Beyer K, Teuber SS (2005): Food allergy diagnostics: scientific and unproven procedures. Curr Opin Allergy Clin Immunol 5(3):261-6, PMID 15864086
  14. kimeter.de
  15. 15,0 15,1 CA 2205249 C: Kinesiology testing apparatus. Anmeldedatum: 13.05.1997. Patenterteilung: 14.01.2003
  16. DE 3844523 C2: Gerät zum Erfassen von Unterschieden in der Leistungsfähigkeit der menschlichen Muskulatur. Anmeldetag: 12.12.1988. Patenterteilung: 04.06.1992 (1998 erloschen). Inhaber/Erfinder: Horst Konzelmann
  17. http://www.jetkinesiology.com/
  18. DE 4337684 C2: Behavioral-kinesiologische Messvorrichtung. Anmeldetag: 04.11.1993. Patenterteilung: 05.06.2003 (2004 erloschen)
  19. EP 1423050 B1: Dynamometer und zugehöriges Auswerteverfahren. Anmeldedatum: 06.09.2002. Patenterteilung: 15.03.2006