Miasmentheorie
Miasmentheorien sind inzwischen überholte historische Konzepte zur Krankheitsentstehung, insbesondere von chronischen Krankheiten, die zu Beginn der Bakteriologie diskutiert wurden. Der Begriff „Miasma“ bedeutet „übler Dunst, Verunreinigung, Befleckung, Ansteckung“. Diese giftigen Ausdünstungen und üblen Gerüche des Bodens sah man früher als Ursache von Krankheiten an. Noch heute erinnert die Bezeichnung Malaria (von lateinisch mala aria: schlechte Luft) an dieses Konzept. Der Begriff Miasma wird auch heute noch in der Homöopathie in einem anderem Zusammenhang verwendet.
Entstehung
Zu Beginn des 19. Jahrhunderts konnte man sich aufgrund mangelnder Kenntnisse im Bereich der Mikrobiologie und der Mikroskopie die Ursachen vieler Erkrankungen nicht erklären. Eine der Geißeln der Menschheit, die Cholera, überzog (ausgehend vom indischen Subkontinent, vor allem der Wasserläufe in Bengalen) Europa im 19. Jahrhundert insgesamt fünfmal mit Epidemiewellen, die zehntausende Menschen das Leben kosteten. Man wusste zwar recht bald, dass gerade diese Seuche in jenen Quartieren am häufigsten anzutreffen war, in denen die Trinkwasser- und Abwasserverhältnisse am miserabelsten waren, aber die eigentliche Ursache dieser dramatisch verlaufenden Durchfallerkrankung mit einer Todesrate bis zu 60% kannte man nicht.
Die Angst vor Miasmen führte bereits im Mittelalter bei Seuchenausbrüchen zu quarantäneartigen Maßnahmen, was die weitere Verbreitung der Krankheiten verhinderte. So vergrub man Pestleichen außerhalb der Städte, verbrannte deren Hab und Gut und isolierte Erkrankte von Gesunden.
Miasmen- bzw. Kontagienlehre von Max von Pettenkofer
Ein bedeutender Vertreter der Miasmentheorie war der am 3. Oktober 1818 in Lichtenheim bei Neuburg geborene promovierte Mediziner Max Pettenkofer.
Pettenkofer machte sich neben vielen anderen wissenschaftlichen Tätigkeiten in der Bekämpfung der Cholera einen Namen. Aufgrund seines engagierten Auftretens gelang es Max von Pettenkofer, eine langjährige Choleraepidemie in München allein durch hygienische Maßnahmen und Empfehlungen zu beherrschen. 1873 wurde er zum Vorsitzenden der vom Reichskanzler berufenen Cholerakommission ernannt, 1883 wurde ihm ein erblicher Adelstitel verliehen.
Aufgrund der Lebensgeschichte und seiner wissenschaftlichen Laufbahn als Chemiker, Analyst und Hygieniker ist es leicht verständlich, dass von Pettenkofer den Grund für Seuchen wie der Cholera in Ausdünstungen aus dem Boden sah. Die von ihm entwickelte "Miasmentheorie" erklärte die Entstehung und Ausbreitung epidemischer Krankheiten allein durch schlechte Ausdünstungen der Umwelt aus Boden, Sümpfen, Wasser oder Luft. Die Erfolge bei der Bekämpfung der Münchner Choleraepidemie bestärkten ihn in seinen Ansichten, obgleich aus heutiger Sicht natürlich nicht die 'Miasmen' bekämpft, sondern den Choleraerregern die Vermehrungsmöglichkeiten genommen wurden. Unabdingbare Voraussetzung für die Bekämpfung bakteriell übertragbarer Krankheiten wie Cholera, Typhus u.a. ist jedoch eine exzellente Kanalisation, wassergespülte Toiletten und eine separate Frischwasserzuleitung. In diesem Bereich war von Pettenkofer stets aktiv und hier gebührt ihm viel Respekt.
Niedergang der Miasmentheorie
Der wissenschaftliche Ruhm, den der Erfolg seiner Hygiene- und Miasmenlehre Pettenkofer einbrachte, war jedoch nur vorübergehend, da die Cholera trotz sanierender Maßnahmen weiterhin in Europa grassierte. Ab 1883 wurde die Cholera durch den Pilgerverkehr erneut von Indien nach Mekka eingeschleppt und breitete sich anschließend zum fünften Mal in Europa aus. Diese Epidemie forderte letztlich auch in Deutschland, in der Hansestadt Hamburg, mehrere tausend Todesopfer.
Parallel zu den größeren Hygienebewegungen Deutschlands und Englands wurden mit dieser Epidemie die alten Kontagienlehren des Girolamo Fracastoro (1478-1553) wiederentdeckt. Dieser beschrieb bereits 1530, also mehr als 150 Jahre vor der Erfindung der ersten Mikroskope, die Theorie der Ansteckung durch spezifische Keime. Völlig verschwunden war diese Theorie zwar nie, sie wurde aber nur vereinzelt aufgegriffen und erst in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts durch Jakob Henle (Contagium vivum) erneut betont. Man hatte bereits mehrere (parasitäre) Krankheitserreger finden und ihnen Krankheiten zuordnen können:
- 1832: Trichinen-Beschreibung durch Richard Owen
- 1835: Trichomonas vaginalis durch Alfred Donnè
- 1837: Favus-Pilz durch Lukas Schönlein
- 1851: Distomum haematobium (Bilharziose-Erreger) durch Theodor Bilharz
Zu Beginn des 19. Jahrhunderts herrschte noch ein romantisches Medizinverständnis vor und berühmte Bakteriologen wie Louis Pasteur (1822-1895) und Robert Koch (1843-1910), die bedeutsame Erregernachweise führten, mussten diese gegen die Vorstellungen der Entstehung niederer Organismen durch Urzeugung (z.B. entstanden Maden scheinbar von selbst aus verfaulendem Fleisch) ankämpfen und die Vielgestaltigkeit (Pleomorphismus) sowie allseitige Verbreitung (Ubiquität) von Bakterien darlegen. Dass selbst Louis Pasteur anfänglich nicht immer von der krankheitserzeugenden Bedeutsamkeit von Bakterien überzeugt war, erkennt man an seiner Aussage: 'Das Bakterium ist nichts, das Milieu ist alles', die auch heute noch gern im alternativmedizinischen Bereich als Beleg dafür herangezogen wird, dass nicht immer ein Keim der Krankheitsauslöser sein müsse, sondern die Abwehrlage, eine nicht näher definierte "Immunschwäche" oder gar mystische Einflüsse durch das (miasmatisch anmutende) "Feinstoffliche".
Mit der Erfindung leistungsfähiger Mikroskope ab der Mitte des 19. Jahrhunderts Hand in Hand mit der Entwicklung stetig besserer Vitalfärbungen und Anzuchtmethoden, die es erlaubten, Bakterien in lebender Form zu untersuchen, wurden immer mehr Krankheitserreger entdeckt:
- 1876: Milzbranderreger durch Robert Koch
- 1879: Gonokokken durch Albert Neissere
- 1880: Mocobycterium leprae durch Armauer Hansen
- 1880: Salmonella typhi durch Karl J. Eberth
- 1882: Mycobacterium tuberculosis durch Robert Koch
- 1883: Vibrio comma (Choleraerreger) durch Robert Koch
- 1885: Clostridium tetani durch Frau J. Rosenbach
Das Ende der Miasmentheorie
Das Ende der Miasmentheorie Max von Pettenkofers wurde durch die fünfte Choleraepidemie eingeleitet. Es kam zu einem erbitterten Streit zwischen von Pettenkofer und anderen Ärzten wie Robert Virchow, dem Begründer der Zellularpathologie, und Robert Koch.
Robert Koch war 1880 ordentliches Mitglied des Reichs-Gesundheitsamtes und übernahm nach der Ernennung zum Geheimen Regierungsrat im Jahre 1883 die Leitung der Cholera-Kommission, die die Ursache der Epidemie in Ägypten und Indien untersuchen sollte. Damit wurde er zum direkten Rivalen Pettenkofers, der zuvor selbst Vorsitzender der Cholerakommission war.
Vor der Entdeckung des Choleraerregers durch Robert Koch wurde die Auseinandersetzung zwischen Bakteriologen und Miasmatikern sehr emotional ausgetragen, wobei die Verfechter der Miasmentheorie nicht immer logische Fakten und Tatsachen, sondern wissenschaftliche Ehre, Achtung und Ruhm als Argumente anführten. Max von Pettenkofer war der Meinung, dass sich die Cholera aufgrund von Ausdünstungen ergebe. Im Wesentlichen argumentierte er:
- manche Orte seien trotz Einschleppung der Choleraerreger gegen die Cholera immun,
- die meisten Cholerafälle in Kalkutta seien einer 26jährigen Statistik zufolge in der heißen und trockenen Zeit, also der für die Erreger ungünstigsten, vorgekommen,
- die Trinkwassertheorie Kochs (z.B. die Verbreitung choleraerregerhaltigen Trinkwassers durch die Wasserwerke der Stadt Hamburg) sei unhaltbar und oberflächlich
- die Cholerahäufigkeit und die Ansammlung großer Menschenmassen stünden in keinem nachweislichen Zusammenhang
- durch Schiffe werde die Cholera nur dann verbreitet, wenn die örtliche und zeitliche Disposition gegeben sei. Eingeschleppt werde der Keim fortwährend, er entwickele sich aber nur, wenn die Disposition vorhanden sei.
Um zu beweisen, dass er im Recht sei und Koch hinsichtlich der krankheitserzeugenden Wirkung der Cholerabazillen Unrecht habe, führte Max von Pettenkofer am 7.10.1892 einen Selbstversuch durch. Er nahm eine Lösung aus Cholerakeimen ein, die aus der von der Cholera betroffenen Hansestadt Hamburg stammten und in einer Agar-Reinkultur bzw. einer daraus frisch angesetzten Boullionkultur angezüchtet worden waren. Da bereits bekannt war, dass saurer Magensaft die Bazillen abtöten konnte, sorgte Pettenkofer dafür, dass sein Magen fast leer war (er hatte seit 2 1/4 Stunden nichts gegessen) und gab der Bazillenflüssigkeit noch kohlensaures Natron bei, um vorhandene Säure zu neutralisieren. Er trank 1 ccm der Boullion und hatte nur leichten Durchfall und 'Darmgrollen' zu beklagen. Er überlebte den Versuch ohne größere Probleme, obgleich in seinen Stühlen massenweise Cholerabazillen nachweisbar waren.
Emmerich, ein Schüler Pettenkofers, nahm am 17. Oktober 1892 0,1 ccm der gleichen Boullionkultur verdünnt und alkalisiert zu sich und überlebte nach heftigerem Krankheitsverlauf den Versuch ebenso. Er behandelte sich mit einem Klistier und Opiumpulver. Er hatte zwar heftige Durchfälle und großen Durst, häufiges 'Kollern im Darm', belegte Stimme und das Gefühl von Trockenheit im Pharynx, aber nicht einmal der Harnfluss war auf der Höhe des Krankheitsprozesses auffallend vermindert und sein 'Allgemeinbefinden war ungestört'. Auch bei ihm waren massenweise Cholerabazillen in den Stühlen vorhanden. Auch ein Herrn Klein aus Bombay verschluckte eine Boullion aus Koch‘schen Choleraerreger, ohne zu erkranken.
Es war seinerzeit aufgrund des erlangten Wissensstandes für Robert Koch schwer, dies wissenschaftlich zu widerlegen. Aus heutiger Sicht hingegen ist es leicht, diesen Selbstversuch zu erläutern. Es existieren nämlich zwei Choleratypen (sogenannte Biotypen). Den ersten (Vibrio cholerae 0:1) entdeckte Koch 1883, den zweiten (Vibrio cholerae El Tor; heute nennt man ihn Biovar El Tor) fand Gotschlich 1906. Heute unterteilt man beide Biotypen in verschiedene Subtypen: Vibrio cholera ogava, Vibrio cholera inaba, Vibrio cholera ogava Biotyp El Tor, Vibrio cholera inaba Biotyp El Tor. Neben den Spezies Vibrio cholerae 0:1 und Vibrio El Tor lassen sich serologisch 137 weitere Gruppen, sogenannte nicht-agglutinierende Vibrionen, differenzieren. Wichtig ist dabei, dass diese Biotypen und Subtypen unterschiedlich intensiv verlaufende Choleraepidemien auslösen. Besonders gefährlich ist dabei der von Robert Koch entdeckte Erreger Vibrio cholarae 0:1 (unbehandelt bis 60% Mortalitätsrate), etwas weniger gefährlich ist der Biotyp von Gotschlich, der nur in 15-30% der Fälle unbehandelt zum Tode führt. Die anderen Subtypen führen oftmals zu schweren Durchfällen, jedoch wesentlich seltener (1-10%) zum Tode. Es ist demnach anzunehmen, dass Pettenkofer und seine Befürworter das Glück hatten, weniger gefährliche Cholera-Biotypen einzunehmen, deren Mortalitätsrate gering war. Da alle drei Miasmatiker große Mengen Getränke zu sich nahmen - auch heute noch zählt die Gabe von zuckerhaltigem, sauberem Wasser in großen Mengen zur Standardtherapie der Cholera - ist denkbar, dass sie einer im Vergleich zu Vibrio cholera 0:1 vergleichsweise niedrigeren Gefährdungslage ausgesetzt waren.
Letztendlich setzte sich das bakteriologische Erklärungsmodell Robert Kochs durch. Koch empfahl u.a., sämtliche Nahrungsmittel und vor allem das Trink- und Gebrauchswasser vor Benutzung abzukochen und sämtliche Gegenstände, die in Kontakt mit Cholerakranken gekommen waren, zu sterilisieren. Koch drängte vor allem in der Hansestadt Hamburg auf die beschleunigte Errichtung von Trinkwasserfilteranlagen, um das choleraverseuchte Elbwasser vor der Einleitung in die Trinkwassersysteme zu reinigen.
Pettenkofers Theorie erwies sich im Verlauf des wissenschaftlichen Streits, der sich über mehrere Jahre hinzog, als unzutreffend. Er zog sich aus dem Wissenschaftsleben zurück und schied am 10. Februar 1901 vereinsamt durch Selbstmord aus dem Leben.
Miasmenlehre in der Homöopathie
Auch heute noch gibt es "Miasmatiker", allerdings überwiegend im Bereich der Homöopathie (siehe dazu den Artikel Miasmatische Homöopathie). Hier jedoch handelt es sich nicht um die Pettenkofer'sche Miasmen- oder Kontagienlehre, sondern um "Miasmen", die von Samuel Hahnemann selbst als ursächlich für die Erzeugung von Krankheiten angesehen wurden. Hier ist entscheidend, dass der gleiche Begriff (Miasma) in völlig unterschiedlichen Gedankenmodellen angewendet wird. Hahnemann veröffentlichte seine ("homöopathische") Miasmentheorie in seinem Buch Die chronischen Krankheiten im Jahre 1828 - etwa zu der Zeit, als er die D30-Potenzen als Standardverdünnung in die Homöopathie einführte. Im Gegensatz zu Max von Pettenkofer, der unter 'Miasma' Ausdünstungen z.B. aus dem Boden verstand, beschrieb Hahnemann sein "Miasma" als eine Wolke oder einen Nebel innerhalb des menschlichen Organismus. Hahnemann führte die Ursache aller Erkrankungen auf drei Wurzeln oder Grundmiasmen zurück:
- Psora, Krätze
- Lues, Syphilis
- Sykose, Gonorrhoe (Tripper)
Es ist jedoch zu differenzieren zwischen der Vorstellungswelt des "Hahnemann'schen Miasma" und der Kontagien-/Miasmenlehre Max von Pettenkofers. Beides hat miteinander nichts zu tun.
Quellennachweise
- Eckart W: Geschichte der Medizin. Thieme Verlag, Stuttgart, 12. Aufl., 1998
- Karger-Decker B: An der Pforte des Lebens. Edition Q, Band 1, 1991