Aderlass
Der Aderlass (als hypovolämische Variante einer Hämodilution, engl. Bloodletting) ist ein seit der Antike bekanntes und bis ins 19. Jahrhundert verbreitet angewandtes, humoraltherapeutisches Heilverfahren und gilt als eine der ältesten medizinischen Behandlungsformen. Bei einem Aderlass wird dem Patienten teilweise eine nicht unerhebliche Menge Blut entnommen.
Bis auf wenige Ausnahmen (Polycythaemia vera, eine krankhaft vermehrte Bildung von roten Blutkörperchen; Hämochromatose, eine Erkrankung des Eisenstoffwechsels; Polyglobulie zur Verbesserung der Fließeigenschaften des Blutes und alle Erkrankungen mit venöser Stase) ist kein medizinischer Nutzen des Aderlass bekannt. Ein Schutz vor Herzinfarkt und Schlaganfall durch regelmäßige Aderlässe bei Patienten mit arterieller Verschlußkrankheit konnte nicht nachgewiesen werden.[1]
Der Aderlass stellt die primitivste Form einer Hämodilution dar. Als hypovolämische Hämodilution kommt es sowohl zur Verminderung der Erythrozytenzahl als auch des Blutvolumens. Die isovolämische oder normovolämische Hämodilution (IHD, eine Kombination aus Aderlass und HAES-Infusion) wird bei venösen Durchblutungsstörungen der Netzhaut eingesetzt. Es kommt dabei zu einer Absenkung des Hämatokrits bei Erhalt des Blutvolumens.
Allgemein
In der Pseudomedizin werden auch heute noch Aderlässe als ausleitende Verfahren angewendet.
Aderlässe werden hier insbesondere zur „Blutreinigung“ (Ausleitung von "Giftstoffen" und "Schlacken") sowie bei Fettsucht, Gicht, Zuckerkrankheit, Bluthochdruck, Lungenödemen, Stauungsödemen, degenerativen Veränderungen des Bewegungsapparates und Durchblutungsstörungen im Gehirn durchgeführt. Weitere Anwendungsgebiete sind „Blutfülle“ (Plethora), Entzündungen, zur Entgiftung und Stoffwechselverbesserung, zur Beruhigung bei lokalen Krämpfen (Koliken) sowie zur Verbesserung der Durchblutung. Insbesondere aber soll regelmäßiger Aderlass - wenigstens dreimal pro Jahr - dem “Druckabbau im Blutkreislauf” dienen, was angeblich der Gefahr von Schlaganfall, Herzinfarkt und Bluthochdruck vorbeugt.
Eine Variante des Aderlass ist das blutige Schröpfen (engl. cupping therapy). Beim blutigen Schröpfen bzw. nassen Schröpfen wird, bevor das Schröpfglas mit Unterdruck aufgesetzt wird, die Haut z. B. mit einer Blutlanzette angeritzt. Dann zieht der Unterdruck das Blut verstärkt durch die Verletzungen heraus. Diese Methode ist auch als Puhang bekannt und Bestandteil traditioneller Behandlungsmethoden aus Korea.
Dabei soll der Nutzen des Aderlasses auf zwei inzwischen veralteten und wissenschaftlich widerlegten Vorstellungen (Viersäftelehre) beruhen:
- Zum Einen wusste man noch nicht, wie das Blut im Körper zirkuliert und nahm daher an, Blut könne sich in den Gliedern auch stauen und verderben (verschleimen, eindicken und übersäuern). Dieses „schlechte Blut“ müsse entfernt werden, da es sonst zur Entstehung vieler Krankheiten komme.
- Zum Anderen wurden Krankheiten auf ein Ungleichgewicht der vier Säfte (Blut, gelbe Galle, schwarze Galle, Schleim) zurückgeführt. Durch Ausleitung bei Blutfülle und Fieber konnte nach dieser Vorstellung das Gleichgewicht wiederhergestellt werden.[2]
Geschichte
Im Mittelalter wurde das Blut wurde mittels genauer Inspektion (Blutschau) des Aderlassblutes zu diagnostischen Zwecken benutzt. Auch in der islamischen Medizin war der Aderlass bekannt, wahrscheinlich durch die griechischen Autoren. Die historisch wichtigen medizinischen Schriften Al-Qanun fi-l-tibb [Die Gesetze der Medizin] von Ibn Sina und insbesondere das Al-Tasrif li-man 'ajaza 'an al-ta'lif des Andalusiers Abu al-Qasim Al-Zahrawi empfehlen den Aderlass[3][4]. Die ayurvedische Medizin kannte den Aderlass ebenfalls, wie in der Sushruta-Samhitâ dargestellt ist. Auch im Fernen Osten gehört er zu den klassischen Standardtherapien. Im europäischen Mittelalter war der Aderlass, durchgeführt von Mönchen, sehr verbreitet. Als ihnen Papst Alexander III. 1163 dieses blutige Geschäft verbot, übernahmen die Barbiere oder Bader diese Tätigkeit. Eine weite Palette von Krankheiten wurde durch den Aderlass behandelt. Man kann fast von einer universellen Methode sprechen. Die Zeiten für den Aderlass und die entsprechenden Stellen am Körper wurden nach astrologischen Kriterien festgelegt. Davon zeugen die zahlreichen Darstellungen von so genannten „Aderlass-Männchen“.[2]
Der Aderlass war bis weit in die Neuzeit hinein üblich. Zwei bekannte Opfer des Aderlasses waren Kaiser Leopold II. und George Washington. Der Habsburgerkaiser wurde kurz von seinem Tod 1792 viermal zur Ader gelassen. Dies wurde von Samuel Hahnemann, dem Erfinder der Homöopathie und Gegner des Aderlasses, scharf kritisiert. 1799 starb der erste Präsident der USA, George Washington, an einer Kehlkopfentzündung. Im Zuge der Behandlung hatte man dem Patienten fast die Hälfte seines Blutes abgenommen, weshalb man heute annimmt, dass der Aderlass für seinen Tod ursächlich war. 1809 wurden die Wirkungen des Aderlasses erstmals in kontrollierten Studien durch den Militärarzt Alexander Hamilton untersucht. Die Ergebnisse ergaben, dass die Sterblichkeit der zur Ader gelassenen Patienten zehnmal höher war als die der Patienten, die dem Aderlass entgingen. Diese Arbeiten wurden allerdings nicht veröffentlicht. Erst 1987 kamen sie wieder ans Licht. Einige Jahre nach Hamiltons Arbeiten führten allerdings andere Ärzte Studien mit gleichem Ergebnis durch, aber erst gegen Mitte des 19. Jahrhunderts verschwand der Aderlass allmählich aus der ärztlichen Praxis.
Methoden
Der Bader des Mittelalters verwendete Aderlass-Messer, sogenannte Flieten, oder ab dem 15. Jahrhundert ein Gerät, dessen spezielles Messer nach dem Anritzen der Ader zurückschnappt, den Schröpfschnepper. Heutzutage wird Venenblut mit einer größeren Kanüle abgenommen. Die Menge des abgenommenen Blutes liegt zwischen 50 und 500 ml.
Verwandt mit dem Aderlass ist die Blutegeltherapie, die in früheren Zeiten in erster Linie bei Frauen angewendet wurde.
Gefahren
Bei Durchblutungsstörungen im Gehirn oder bei Blutgerinnungsstörungen kann ein Aderlass lebensgefährlich werden, desgleichen bei Herzrhythmusstörungen, Angina pectoris oder Anämie. Ebenso bestehen Gefahren, weil diese Methode auch von Heilpraktikern, also medizinischen Laien, ausgeführt werden darf.