Grünlippmuschel-Produkte (Grünschalmuschel-Extrakte) enthalten Extrakte aus Grünlippmuscheln (Perna canaliculus) und werden in der Alternativmedizinszene zur Behandlung von entzündlichen Erkrankungen wie (rheumatoider) Arthritis und Asthma beworben. Wirksam sollen dabei Glykosaminoglykane (langkettige Aminozuckerverbindungen) sein, die auch in der Gelenkflüssigkeit (Synovialflüssigkeit) vorkommen.

Studien zeigen eine Wirksamkeit im Tierversuch und beim Menschen; problematisch sind mögliche Belastung mit verschiedenen Algentoxinen.

Die Grünlippmuschel (Perna canaliculus) ist seit langem bei Feinschmeckern als Lebensmittel sehr beliebt. Neuseeland ist derzeit der weltgrößte Anbieter dieser New Zeeland Greenlip Oyster (Green Shell Mussel) genannten Muscheln. Die Muscheln aus Neuseeland werden auch unter dem Markennamen "Greenshell" vermarktet.Im Jahre 2000 wurden mit dem Produkt über 120 Mio. neuseeländische Dollars umgesetzt.

Die Saison für die Ernte dieser Muscheln ist ganzjährig. Nach einer Wachstumszeit von 1,5 Jahren ist die Muschel erntefähig bzw. die Ernte erfolgt ab einer Mindestgröße von 10 cm. Neben den USA ist Spanien der zweitgrößte Importeur frischer Grünlippmuscheln. Die Neuseeländer sind sehr froh über den Verkaufserfolg ihrer Muscheln, da deren Bestände wohl auch aufgrund der weltweiten Klimaveränderung in besorgniserregendem Umfang zunehmen. Der überwiegende Teil der Muschelproduktion wird von Feinschmeckern in über 30 Ländern der Welt verzehrt.

Ein relativ kleiner Teil von etwa 10% wird im Bereich der Nahrungsergänzungsmittel angeboten. Dabei wird aus 40 kg Muscheln 1 kg Extrakt hergestellt. Nahrungsergänzungsmittel auf Basis dieser Extrakte werden im Internet zur Therapie diverser Erkrankungen unter der Bezeichnung Lyprinol angepriesen. Die Preise sind unterschiedlich; 1 kg Extraktrohware ist ab 75 Euro erhältlich.

Lyprinol bremst Arachidonsäurestoffwechsel

In diversen klinischen Studien wurde in den letzten Jahren die entzündungslindernde Wirkung von Grünlippmuschel-Extrakten bei Menschen untersucht. Grünlippmuscheln enthalten eine Substanz, die - z.B. analog zu Weihrauch - in den Arachidonsäurestoffwechsel eingreift und die Umwandlung von 5-Lipoxyoxygenase zu Leukotrienen bzw. 5-Hydroxy-Eicosatetranolsäure (5-HETE) hemmt. Auch bremst sie die Umwandlung von 12-Lipooxygenase in 12-HETE[1]. Viele der genannten Substanzen spielen eine Rolle bei Entzündungsprozessen.


Eine Übersichtsarbeit aus dem Jahre 2006, die den aktuellen Forschungsstand wiedergibt, kam jedoch zum Ergebnis, dass es bislang keine ausreichenden Wirksamkeitsbelege gibt, die eine Anwendung beim Menschen als entzündungshemmendes Mittel rechtfertigen würde.[2]

Wirksamkeit im Tiermodell nachgewiesen

Eine Entzündungslinderung im Vergleich zu etablierten Arzneimitteln wurde im Rattenmodell dokumentiert. Gibt man 5 mg Lyprinol pro Kilogramm Körpergewicht, erbringt diese Dosierung eine Entzündungslinderung um 91%. Dies war effektvoller als die Gabe von 1, 3 oder 5 mg Indomethacin (26%, 68% oder 83%) (Halpern 2000). Eine weitere Tierstudie an Ratten zeigte ebenfalls eine entzündungslindernde Wirkung des Extrakts, wobei der Extrakt (300 mg pro kg Körpergewicht) jedoch injiziert wurde (Couch et al. 1982). Während es bei placebobehandelten Ratten unter vorheriger Gabe einer zur Gelenkentzündung führenden Injektion mit einem Gift zu einer deutlichen Zunahme des Gelenkumfangs um 40-60% kam, war die Schwellung bei den Grünlipp-behandelten Versuchstieren deutlich geringer (18-38%). Es liegen noch weitere Tierversuchsstudien vor, die analoge Effekte zeigen (Miller umd Ormrod 1980, Rainsford und Whitehouse 1980).

Lyprinol wirkt gegen (rheumatoide) Arthritis und bei Asthma

Interessant sind jedoch Studien am Menschen, da sich nicht ohne weiteres tierexperimentelle Daten auf den Menschen übertragen lassen. Es liegen einige Studien vor, die die Wirksamkeit von Grünlippmuschelextrakten bei akuter Gelenkentzündung (Arthritis, rheumatoider Arthritis) und Asthma nachweisen konnten.

Gisbon et al. (1980) gaben drei 350 mg-Kapseln täglich im Rahmen einer Doppelblindstudie an 17 Patienten mit rheumatoider Arthritis und 16 Patienten mit Osteoarthritis ab und verglichen deren Verhalten mit 11 bzw. 22 placebobehandelten Patienten. Die Patienten waren zwischen 57-69 Jahren alt und hatten 13-18 Jahre an ihrer Grunderkrankung gelitten. Es kam in beiden Behandlungsgruppen zu einer deutlichen Verbesserung der Beweglichkeit der Gliedmaßen, zu einer Verringerung der Schmerzen (gemessen mittels Visual Analog Scale) und einer Verbesserung des Funktionellen Index (eines Scores zur Einschätzung der Krankheitsschwere). Es kam allerdings auch zu Nebenwirkungen unter Extraktgabe, wobei Übelkeit und Magen-Darm-Beschwerden, gesteigerte Winde und Ödembildung auftraten.

In der Studie von Caughey et al. (1983) wurden 47 ambulante Patienten im Alter von 29-68 Jahren, die an rheumatoider Arthritis erkrankt waren, über sechs Wochen entweder mit 750 mg Naproxen + 1.050 mg Grünlippmuschelextrakt (Verumgruppe) oder 750 mg Naproxen + Placebo täglich behandelt. Von der 7.-12. Woche wurde die Naproxendosis in beiden Studienarmen durch Placebo ersetzt. Innerhalb der ersten 6 Wochen brach unter Verum nur einer von 23 Patienten die Studie ab, während es in der Placebogruppe 5 von ursprünglich 24 Patienten waren. Bei Umstellung ab der 7. Woche auf volles Placebo brachen bis zur 12. Woche in der Verumgruppe weitere 14 Patienten und in der Placebogruppe weitere 15 Patienten die Studie vorzeitig ab. Dies zeigte, dass unter Grünlippmuschel-Naproxen-Therapie die beste Erfolgsrate vorhanden war, während unter alleiniger Naproxengabe die Rate deutlich niedriger lag. Wurde nur noch scheintherapiert, brachen die meisten Patienten die Studie ab. Allerdings veröffentlichten Caughey et al. (1983) keine ausführlichen Informationen über andere Untersuchungsparameter, so dass die Aussagekraft ihrer Studie eingeschränkt scheint. Eine niedrigere Abbruchquote allein sagt nicht viel über die tatsächliche Wirksamkeit von Grünlippmuschelextrakt bei rheumatoider Arthritis aus.

Die bislang methodisch überzeugendste Studie am Menschen wurde von Emelyanov et al. (2002) publiziert. Sie gaben in einem doppelblinden, parallelisierten, randomisierten, placebokontrollierten Versuch jeweils 23 Patienten mit Asthma bronchiale entweder 2 Kapseln Lyprinol oder Placebo. Die Studiendauer betrug 8 Wochen. Nach dieser Zeit hatte sich die morgendliche forcierte Einsekunden-Ausatemkapazität (PEF) unter Lyprinol von 361.3 l/min signifikant (p < 0.01) um 13% verbessert, während sie sich unter Placebo von ursprünglich 384.3 l/min auf 350.9 l/min signifikant (p < 0.01) verschlechtert hatte. Das forcierte expiratorische Volumen in der 1. Sekunde (FEV1%) blieb allerdings sowohl unter Placebo als auch unter Lyprinol unverändert. Die Häufigkeit täglicher Asthmaanfälle sank unter Lyprinol von 2.27 signifikant (p < 0,05) auf 0.7 ab, während sie unter Placebo nur von 1.41 auf 1.29 zurückging. Die Häufigkeit nächtlichen Aufwachens aufgrund von Atemproblemen verändert sich allerdings weder unter Lyprinol noch unter Placebo signifikant. Der Ausstoss an Wasserstoffperoxid mit der Atemluft als Zeichen von sauerstoffmangelbedingten Zellschäden im Organismus konnte mitels Lyprinol von 0.11 auf 0.05 Micro-Mol signifikant (p < 0.01) gesenkt werden, während unter Placebo eine Steigerung von 0.12 auf 0.16 Micro-Mol nachgewiesen werden konnte. Nebenwirkungen traten unter Placebo und Lyprinol jeweils in einem Fall auf. Es kam dabei zu Hautrötungen. Ein Lyprinol- und zwei Placebobehandelte klagten über einen metallischen Geschmack im Mund. Veränderungen des Blutdrucks, des Kreatinin-, Bilirubin-, Transaminasen- oder alkalischen Phosphatasegehalts im Serum traten nicht ein. Die Autoren schlossen aus ihren Ergebnissen, dass der Grünlippmuschelextrakt einen positiven Effekt bei Asthmapatienten haben könne.

Vorsicht: Gift in Grünlippmuscheln!

Wie bei jedem Naturprodukt, sind auch beim Grünlippmuschelextrakt bestimmte Gefahren nicht auszuschließen.

Grünlippmuscheln ernähren sich von Plankton. Dieses beinhaltet Algen und Bakterien und andere Mikroorganismen (besonders die hochgiftigen Dinoflagellaten [1]), die wiederum Nervengifte gegen ihre Fressfeinde produzieren. Jene Gifte müssen nicht automatisch für Grünlippmuscheln tödlich sein, können aber wiederum beim Nächsten in der Nahrungskette durch Anreicherung der Gifte zu Problemen führen. MacKenzie et al. (2002) untersuchten Grünlippmuscheln von der nördlichen Westland-Coast der neuseeländischen South Island, die während einer Algenblüteperiode geerntet wurden, in denen auch die Grünlippmuscheln gut wuchsen. In Abhängigkeit der jahreszeitlichen Wachstumsstärke des Algenplanktons zeigte sich entlang einer 110 km langen Prüfstrecke entlang der Küste ein ganzes Spektrum diverser Algentoxine in den Grünlippmuscheln. Man fand pro 100 g Lebensgewicht u.a. 94-164 Microgramm Yessotoxin, 13.5-188 Microgramm 45OH-Yessotoxin, 0.8-19.3 Microgramm Pectenotoxin 2 und 22-1.132 Microgramm Pectenotoxin 2-SA. Es wurde noch einige weitere Algentoxine festgestellt.

So beschrieben Morohashi et al. (1999), die im Jahre 1993 auf der neuseeländischen Coromandel Peninsula, North Island Grünlippmuscheln gesammelt hatten, eine Belastung mit dem Algengift Brevetoxin. Wenn die belasteten Muscheln von Fischen gefressen werden, kommt es in deren Organismus zu einer Umwandlung in Analoga (Brevetoxin B2 bis -B4), was wiederum zu Fischsterben, aber auch zu Vergiftungserscheinungen bei jenen führen kann, die diese Fische ggf. im Rohzustand verzehren.

Auch Todesfälle sind möglich. So wurde im Jahr 2008 über eine Patientin berichtet, die über einen längeren Zeitraum ein Nahrungsergänzungsmittel, das u. a. Grünlippmuschelkonzentrat enthielt, eingenommen und eine toxische Hepatitis entwickelt hatte. Die Patientin verstarb an den Folgen der Leberparenchymschädigung und Multiorganversagen. Der Zusammenhang zwischen der Noxe und der aufgetretenen Symptomatik ist möglich[3].

Das Problem der Algentoxinbelastung in Neuseeland ist nicht neu. Seit 1992 wurde eine konsequente Suche der saisonalen Meerwasserbelastung hinsichtlich der marinen Biotoxine vorgenommen, weil sich immer wieder Lebensmittelvergiftungen u.a. nach Muschel- oder Fischkonsum einstellten, die auf Algentoxine zurückgeführt werden konnten. Ein Report des neuseeländischen Gesundheitsministeriums (MarineBiotoxinReportDec2000.pdf) gibt hierzu einen Überblick.

Aufgrund der Möglichkeit, dass es bei der Erzeugung der Grünlippmuschelextrakte zu einer Anreicherung dieser Algengifte kommen kann, besteht durchaus die Gefahr, sich bei der dauerhaften Einnahme von Grünlippmuschel-Extrakten einer chronischen Vergiftung mit Algentoxinen auszusetzen. Im Gegenzug besteht aber ebenfalls die Möglichkeit, dass die Anbieter entsprechender Nahrungsergänzungen vorher geprüftes und sauberes Muschelmaterial verwendet haben. Plant man, Grünlippmuschelextrakt einzunehmen, sollte man sich glaubhafte Laboranalysen vorlegen lassen, die eine geringe oder am besten fehlende Belastung der Rohware beweist. Die Analyse sollte von einem staatlichen Lebensmittelprüflabor stammen und mittels einer LC-MS/MS-Methode durchgeführt worden sein.

Abschließende Bewertung

Grünlippmuscheln schmecken nicht nur gut, sie können auch aufgrund ihres Lyprinolgehaltes eine positive, entzündungslindernde Wirkung bei (rheumatoider) Arthritis und Asthma bewirken. Diese Effekte sind nicht übermäßig, aber doch vorhanden. Nebenwirkungen sind, falls vorhanden, eher gering und wenig bedeutsam. Problematisch ist, dass Grünlippmuschelextrakt - wie auch roh verzehrte Muscheln - indirekt giftig sein können, weil sich die Muscheln von Mikroalgen und Plankton ernähren, die Nervengifte produzieren. Diese Gifte können sich im Endprodukt anreichern. Bis heute gibt es keine publizierten Untersuchungen, die lyprinolhaltige Extrakte bzw. Nahrungsergänzungsmittel hinsichtlich diverser Algentoxine prüften.


Schadenfälle: bisher wurde nur über wenige ernste Schadenfälle in der Literatur berichtet. Problematisch kann jedoch eine Belastung mit verschiedenen Algentoxinen sein. Bezug: Direktimport nach § 73 Abs. 3 AMG möglich, kann aber auf Probleme stoßen und ist zeit- und kostenintensiv. Bezug über das Internet als Nahrungsergänzung (Lebensmittel) legal möglich. Fazit: interessante, nutzbringende Therapiealternative für Patienten, die an chronisch entzündlichen Erkrankungen leiden. Der Produktverkäufer sollte um einen Nachweis der Giftfreiheit seines Produkts gebeten werden. Nur wenn dieser Nachweis glaubhaft geführt wurde, ist die Einnahme empfehlenswert und sinnvoll.

Quellennachweise

  • Caughey DE, Grigor RR, Caughey EB, Young P: Perna canaliculus in the treatment of rheumatoid arthritis. Eur J Rheum Inflam, 6, 197-200, 1983
  • Couch RAF, Ormrod DJ, Miller TE, Watkins WB: Anti-inflammatory activity in fractionated extracts of the green-lipped mussel. N Z Med J, 24, 803-806, 1982
  • Gibson RG, Gibson SLM, Cnoway V, Chappell D: Perna canaliculus in the treatment of arthritis. The Practioner, 224, 955-960, 1980
  • Halpern GM: Anti-inflammatory effects of a stabilized lipid extract of perna canaliculus (Lyprinol®). Allergie Immunologie, 32, 272-278, 2000
  • MacKenzie L, Holland P, McNabb P, Beuzenberg V, Selwood A, Suzuki T: Complex toxin profiles in phytoplankton and Greenshell mussels (Perna canaliculus), rvealed by LC-MS/MS analysis. Toxicon, 40, 1321-1330, 2002
  • Miller TE, Ormrod D: The anti-inflammatory activity of perna canaliculus (NZ green lipped muscle). N Z Med J, 92, 187-193, 1980
  • Morohashi A, Satake M, Naoki H, Kaspar HF, Oshima Y, Yasumoto T: Brevetoxin B4 isolated from greenshell mussels Perna canaliculus, the major toxin involved in neurotoxic shellfish poisoning in New Zealand. Natural Toxins, 7, 45-48, 1999
  • Rainsford KD, Whitehouse MW: Gastroprotective and anti-inflammatory properties of green lipped mussel (Perna canaliculus) preparation. Arzneim Forsch Drug Res, 30, 2128-2132, 1980

Quellenverzeichnis

  1. Halpern 2000
  2. Cobb CS, Ernst E: "Systematic review of a marine nutriceutical supplement in clinical trials for arthritis: the effectiveness of the New Zealand green-lipped mussel Perna canaliculus"., Clin Rheumatol, 2006, vol 25, issue 3, Seiten 275–284
  3. http://www.bfr.bund.de/cm/238/aerztliche_mitteilungen_bei_vergiftungen_2008.pdf, Seite 64f
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