NICO
Als NICO (auch Chronische Kieferostitis – CKO, Neuralgia Inducing Cavitational Osteonecrosis, Neuralgie-Induzierende-Cavitätenbildende Osteolyse oder Ratner’s bone cavity) wird in der alternativmedizinischen Zahnheilkunde und darüber hinaus von einer sehr kleinen Zahl von Zahnärzten eine Art einer latent-chronischen, gleichzeitig aber "unsichtbaren" Kieferknochenentzündung bezeichnet, die nur schwer diagnostizierbar und für den Betroffenen beschwerdefrei sein, aber gleichzeitig auch Jahrzehnte lang latent bestehen soll. Die Bezeichnung "Neuralgia Inducing Cavitational Osteonecrosis" (NICO) geht auf Jerry E. Bouquot, Direktor des "Maxillofacial Center for Diagnostics and Research" in Morgantown, West Virginia (USA) zurück. Ein deutscher Vertreter dieses wissenschaftlich nicht allgemein anerkannten Krankheitskonzeptes ist der Münchner Alternativmedizin-Zahnarzt, Heilpraktiker und Geschäftsmann Johann Lechner.
Das Konzept einer "neuralgia inducing cavitational osteonecrosis" wurde von Zahnärzten und Kieferorthopäden als "Quacksalberei" bezeichnet.[1][2]
Hinweis: zu dem hier gemeinten Zustand sind verwirrenderweise mehrere weitere englische oder deutsche Bezeichnungen im Umlauf wie BME/IO (bone marrow edema/ischemic osteonecrosis), MFO für maxillofacial osteonecrosis oder auch Knochenmarködem.
Angebliche Ursachen
Anhänger des Konzeptes wollen die hier gemeinte NICO von der klassischen Knochenentzündung in Form einer Osteomyelitis unterscheiden. Vom Befürworterkreis werden als Ursachen einerseits Thrombosen und avasculäre Osteonecrosen (AO) benannt und andererseits "Low Level" Infektionen. Aus dem Kreis der Alternativzahnärzte werden auch Hypothesen über eine Entstehung aus "toten Zähnen" oder wurzelbehandelten Zähne genannt. Auch werden vom gleichen Personenkreis zahlreiche Krankheiten genannt, die die Folge einer NICO seien. Aufgrund dieser Hypothese werden auch "Zahnsanierungen" und Zahnextraktionen durchgeführt. Dies führte in den USA zu Prozessen wegen Kunstfehlern und Fehlbehandlungen gegen entsprechende Zahnärzte durch NICO-diagnostizierte Patienten, denen überflüssigerweise nachweislich völlig gesunde Zähne gezogen wurden.
Behauptete Merkmale der NICO
Aus Sicht der Befürworter des Konzepts soll die gemeinte NICO:
- zu einer "Auflösung der knöchernen Strukturen" führen, mit der gleichzeitigen Bildung von kleinsten, radiologisch normalerweise nicht sichtbaren Hohlräumen im Kieferknochen
- es bilde sich ein fettig degeneriertes, nekrotisches, erweichtes Gewebe innerhalb des Kieferknochens
- bekannte klassische Entzündungszeichen wie Schmerz, Schwellung und Eiterbildung sollen fehlen
- Schwellungen des Kiefers und der Schleimhäute fehlten
- kein Anstieg der Körpertemperatur (Fieber)
- eine "systemische Fernwirkung" im Sinne der "Zahnstörfeld"-Hypothese sei die Folge
- unauffällige Röntgenbefunde
- Fehlen von Kranheitssymptomen, selbst über Jahrzehnte hinweg
- Antibiotika seien gegen die anaeroben Bakterien zwecklos
Abweichend von diesen Angaben werden jedoch auch Schmerzen bei jahrzehntelang bestehender NICO als Merkmal dieses behaupteten Zustandes angegeben. Die Schmerzen beträfen das Gesicht oder den Mundbereich (daher auch Neuralgia als Bestandteil der Bezeichnung).
In den behaupteten Hohlräumen sollen sich anaerobe Bakterien anfinden, die Toxine ("Zahntoxine" genannt) und "Leichengifte" (Amine wie Cadaverin und Putrescin, die die Ursache der Halitose, also des "Mundgeruchs", sind) bilden, Schwermetalle speichern und Entzündungsbotenstoffe freisetzen, die im Zusammenhang mit zahlreichen Systemerkrankungen der Körpers stehen sollen. NICO wird, wie Zahnherde allgemein auch, als Ursache vieler anderer Erkrankungen bezeichnet: systemische Beschwerden rheumatiformer, neuralgiformer und andere Systemerkrankungen, Rheuma, multiple Sklerose und sogar die Metastasierung von Primärtumoren.
Damit ist NICO eine Form eines Zahnherdes.
NICO-Diagnostik
Wissenschaftlich sind für die NICO/CKO keine allgemein akzeptierten diagnostischen Kriterien bekannt. Befürwortende Fachliteratur liegt zwar vor, leidet jedoch an methodischen Mängeln. Insbesondere fehlen kontrollierte Studienergebnisse.[4]
Als Diagnose wird vor allem ein besonderes Ultraschall-Untersuchungsgerät namens CAVITAT eingesetzt (Firma Cavitat Medical Technologies, Erfinder: der frühere Verkehrspilot Robert J. Jones). Im Cavitat-Ultraschallbild sollen die gemeinten NICO-Herde durch eine computergenerierte Färbung (als Abbild der Knochendichte) erkennbar werden. Beginnende NICO-Prozesse ("NICO-Vorstadium") sollen sich demnach in gelb als "ischämische Prozesse" abzeichnen. Orange seien demnach "osteonekrotische und fettige Areale". Rot erschienen die endgültigen Hohlräume (Kavitäten) im Kieferknochen, die jedoch radiologisch nicht erkennbar seien.
Laut Johann Lechner sei die NICO auch gleichermassen durch "bioenergetische" Tests erkennbar. Dazu zählt er die Elektroakupunktur nach Voll und die Kinesiologie.[5]
Therapeutische Empfehlungen
Therapeutisch wird eine Zahnsanierung befürwortet, aber auch die Ausfräsung (Kürettage) ganzer Bereiche der Kieferknochens. Des weiteren Zahnextraktionen. Auch werden Therapien wie die Hyperbare Sauerstofftherapie, Anwendungen von Gerinnungshemmern, Intraossäre Neuraltherapie nach Rau (Stabident-Therapie) oder eine NeuroModulation Technique (NMT) genannt.
Behauptete Entdeckungsgeschichte
Laut Anhängern der NICO soll diese bereits im Jahre 1915 durch den Zahnarzt Greene Vardiman Black (1836 - 1915) entdeckt worden sein[6]. Im Jahre 1930 soll ein Dallas Burton Phemister (1882–1951) in den USA die gemeinten Hohlräume als "wenig infektiöse" "Cavitations" bezeichnet haben. Der Erfinder der pseudomedizinischen Elektroakupunktur nach Voll, Reinhard Voll (1909-1989), soll sich zusammen mit einem Fritz Kramer im Jahre 1950 des Konzepts angenommen und einen Begriff der fettigdegenerativen Kieferostitis geprägt haben, um entsprechende Nosoden herzustellen. Mit Hilfe seiner EAV und seinen Nosoden wollte Voll dann den Nachweis seiner "fettigdegenerativen Kieferostitis" bringen können.
Ein aktueller Befürworter ist der US-amerikanische Pathologe Jerry E. Bouquot aus West Virginia. Dieser führte den NICO-Bereich als Ersatz für die seit 1976 verwendete Bezeichnung "cavitational osteopathosis" (CO) ein. Etwa ab 1979 tauchte der NICO Begriff in der zahnheilkundlichen Literatur auf.
Weblinks
Quellen
- ↑ Follmar KE: Taking a stand against fraud and quackery in dentistry, J. Am Coll Dent, vol 70, 3, Seiten 4–5 (2003). PMID=14977370
- ↑ Bouquot JE, McMahon RE: Charlatans in dentistry: ethics of the NICO wars, J Am Coll Dent, vol 70, 3, Seiten 38–41 (2003). PMID=14977380
- ↑ http://www.dr-guggenbichler.de/cavitatsonographie.htm
- ↑ Zuniga JR:,Challenging the neuralgia-inducing cavitational osteonecrosis concept, J. Oral Maxillofac. Surg.,vol 58, 9, Seiten 1021–1028 (2000). PMID=10981982, doi=10.1053/joms.2000.8745 [1]
- ↑ Lechner J.: "Armlängenreflex Test und systemische Kinesiologie" [2]
- ↑ Black GV: A work on special dental pathology", Chicago 1915, medico-dental publishing, S. 388 ff.