Primo-Gefäßsystem
Das Primo-Gefäßsystem (auch engl. Primo vascular system / PVS, novel threadlike structures / NTS, kor. Chin-Lo oder Kyungrak System) ist ein hypothetisches Gefäßsystem, das neben den herkömmlichen Blutgefäßen (Arterien und Venen) sowie dem lymphatischen System existieren soll. Das gemeinte Gefäß-System soll sich bei allen Tierarten und sogar Pflanzen finden lassen und sei wiederum aus weiteren untergeordneten Strukturen zusammengesetzt. 1962 stellte der Nordkoreaner Kim Bong-Han (김봉한, geb. 1916) eine entsprechende Hypothese in fünf nordkoreanischen Journalen vor (Nur Forschungsberichte ohne peer-review und ohne genaue Angaben zur Methodik). Laut Kim sei das von ihm entdeckte Gefäßssystem (von ihm als Chin-Lo oder Kyungrak-System bezeichnet) mit dem Konzept der Existenz so genannter Akupunkturpunkte längs angenommener hypothetischer Meridiane aus der traditionellen chinesischen Medizin identisch. Seit 1966 eine Umbildung des Gesundheitssystems in Nordkorea erfolgte, ist Kim Bong-Han spurlos verschwunden. Seine Hypothese wurde erst ab 2002 wieder "entdeckt" und wird aktuell in der Anhängerschaft der Akupunktur als ein Beweis für die Existenz von Meridianen gewertet. Die Bezeichnung Primo-Gefäßsystem entstand im Jahre 2010 durch eine südkoreanische Forschergruppe um Kwang-Sup Soh, zuvor war vom Kyungrak-System und später vom Bonghan-System die Rede. Das Wort Primo soll auf die angebliche "primordiale" Bedeutung des Primogefäßsystems deuten, denn dieses würde entwicklungsbiologisch zeitlich vor dem Entstehen des Nervengewebes und der Blutgefäße entstehen.
Das hier thematisierte Primo-Gefäßsystem taucht in Lehrbüchern der wissenschaftlichen Anatomie, Mikroanatomie und Physiologie nicht auf, obwohl die Hypothese aus den sechziger Jahren stammt. Es lassen sich bis heute (2016) zwei Perioden der Erforschung des Primo-Gefäßsystems unterscheiden: die Zeit von 1962 bis 1965 und die Periode ab 2002. Befürworter der Existenz des Primo-Gefäßsystems behaupten dass die gemeinten Blutgefäße so klein seien, dass sie den vorangegangenen Generationen von Anatomen und Mikroanatomen entgangen seien. Es handelt sich um eine Hypothese aus der Anhängerschaft der Akupunktur, und aktuell von südkoreanischen Anhängern der Hypothese (ab etwa 2002). Diskussionen und Fachartikel zum Thema Primo-Gefäßsystem gehören in den Bereich der seit Jahren zu beobachtenden, und bislang erfolglos gebliebenen Versuche die Existenz von Akupunkturpunkten und Meridianen zu belegen. (siehe Artikel zu "Heine-Zylindern" und gescheiterte Nachweisversuche von Fritz-Albert Popp)
Zur Hypothese der Existenz eines Primo-Gefäßsystems existiert lediglich ein einziger Artikel bei der Wikipedia, und zwar in deutscher Sprache.[1] In der deutschsprachigen Wikipedia wird die Existenz des Primo-Gefäßsystems als erwiesen dargestellt. In der englischsprachigen Wikipedia existiert kein entsprechender Artikel.
Primo-Gefäßssystem und Bonghan Körperchen (Bonghan corpuscles)
Befürworter des umstrittenen Konzepts behaupten dass die gemeinten Strukturen sehr klein wären und leicht übersehen werden könnten. Es wird teilweise sogar behauptet, dass die gemeinten Gefäße nur im Elektronenmikroskop sichtbar wären und mit Hilfe der Lichtmikroskopie nur mit speziellen Färbemethoden.
Der Hypothese nach seien die Primo-Gefäße (auch Bonghan ducts genannt) mit einer doppelten Wandschicht versehen und verteilten sich in einem Netzwerk, das den ganzen Körper durchziehen soll. Teilweise verlaufe es in enger Nachbarschaft von Nerven, Blut- und Lymphgefäßen. Auch komme es zu Aufteilungen und Abzweigungen der Gefässe. Teilweise würden die Primogefäße auch innerhalb von Blutgefäßen und Lympfgefäßen verlaufen.
Längs ihres Verlaufs würden sich knotenartige Gebilde befinden, die Bonghan Körperchen (auch Bonghan corpuscles, PN, Primo-Nodes oder Primo-Knoten). Der Verlauf der Primo-Gefäße soll der Hypothese nach dem Verlauf der behaupteten Meridiane, so wie sie in der TCM beschrieben werden, entsprechen. Nach Ansicht des Erstbeschreibers Bong Han seien die PV - Gefäße mit einem speziellen Liquor gefüllt, dem Bonghan liquor, bzw. Primoflüssigkeit. Obwohl die gemeinten Gefäße sehr klein sein sollen (und nur im Elektronenmikroskop gut erkennbar seien) machte Bong Han unerklärlicher weise sehr genaue Angaben zum Bonghan Liquor. Demnach enthalte er viel DNA and RNA, Stickstoff sei zu 3,23-3,4% enthalten, die Konzentration an Hyaluronsäure betrage 170,4 mg%. Es könnten 19 Aminosäuren gefunden werden sowie Nukleotide.
Die Angabe, dass die gemeinten Primogefäße sich wie ein Netzwerk im gesamten Körper des Menschen verteilten, ist mit der Hypothese einer Identität mit den gemeinten Meridianen der Traditionellen Chinesischen Medizin nicht widerspruchlos vereinbar. Alleine die Angabe, dass die Primogefässe sich aufzweigen könnten, wiederlegt die Hypothese. Denn die so genannten Meridiane sollen sich der Lehre entsprechend nie aufzweigen. Ein weiteres Problem ist in diesem Zusammenhang auch die Tatsache, dass es nicht ein einheitliches Meridiankonzept gibt. Vielmehr gibt es sich teilweise widersprechende Verläufe der Meridiane, je nach Lehre.
Sanal Theorie
Bong Han formulierte 1965 auch eine Sanal-Theorie zur Existenz so genannter Mikrozellen. Sanal bedeutet in der Übersetzung "lebendes Ei". Die als Sanal bezeichneten Mikrozellen sollen relativ klein sein (nur etwa 1 Mikrometern Durchmesser) und Stammzellen darstellen, die vor allem in der Primoflüssigkeit zu finden seien. Nach Bong Han soll es auch einen so genannten Sanal-Zellzyklus geben: die gemeinten Sanal-Mikrozellen sollen demnach in Zellen einwandern und die Zellen zu neuen Sanals werden lassen. Ein Sanalsom sei als eine Art Chromosom zu verstehen, das sich bilde wenn Zellen sich in der Zellteilungsphase befinden.
Dem Primogefäßsystem kame demnach eine funktionelle Bedeutung in Form eines Verbreitungsweges für Stammzellen zu.
Die Sanal-Theorie ist mit dem heutigen Wissen aus der Biologie nicht sinnvoll in Einklang zu bringen. Sie ist daher auch nicht Gegenstand von universitären Biologiekursen.
Studienlage ab 2002
2002 behaupteten südkoreanische Wissenschaftler (Kwang-Sup Soh) den Nachweis der Existenz des Primogefäßsystems erbracht zu haben.
Primo-Gefäßssystem und weitere Behauptungen als Beleg für die Existenz von TCM-Meridianen
Kim Bong-Han
Kim Bong Han (김봉한) wurde 1916 geboren. Er studierte in Seoul (Südkorea) und wurde 1946 Arzt. Er wanderte schliesslich nach Nordkorea aus und wurde Chirurg an der medizinischen Fakultät der Universität von Pyongyang (Kyung-Rak Institut KRI). Für seine Forschungen erhielt er einen nordkoreanischen "Volkspreis". Als das (Kyung-Rak Institut 1966 geschlossen wurde, verlieren sich die Spuren von Bong Han. Über seinen Verbleib oder spätere Tätigkeiten ist nichts in Erfahrung zu bringen.
literatur
- B. H. Kim, “Study on the reality of acupuncture meridians,” Journal of Jo Sun Medicine, vol. 9, S. 5–13, 1962 (Koreanisch)
- B. H. Kim, “On the acupuncture meridian system,” Journal of Jo Sun Medicine, vol. 90, S. 6–35, 1963 (Koreanisch)
- B. H. Kim, “On the Kyungrak system,” Journal of the Academy of Medical ScienceS of the Democratic People's Republic of Korea, vol. 90, S. 1–41, 1963
- B. H. Kim, “The Kyungrak system,” Journal of Jo Sun Medicine, vol. 108, S. 1–38, 1965 (Koreanisch)
- B. H. Kim, “Sanal theory,” Journal of Jo Sun Medicine, vol. 108,S. 39–62, 1965 (Koreanisch)
- B. H. Kim, “Sanal and hematopoiesis,” Journal of Jo Sun Medicine, vol. 108, S. 1–6, 1965 (Koreanisch)