Ritalinkritik
Zur Anwendung des Wirkstoffs Methylphenidat zur Behandlung der Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) wurden und werden verschiedene Verschwörungstheorien und sachlich nicht gerechtfertigte Beschuldigungen verbreitet. Dies wird allgemein als Ritalinkritik bezeichnet, da Ritalin der Handelsname eines verbreiteten Medikamentes mit Methylphenidat und einer großen Personenzahl bekannt ist. Der Begriff Ritalinkritik ist somit stellvertretend für die Kritik am Wirkstoff Methylphenidat, aber auch für analoge Substanzen und in einem erweiterten Sinn für die generelle Kritik der Behandlungsbedürftigkeit des ADHS.
Die in diesem Artikel thematisierte Ritalinkritik bezieht sich nur ansatzweise auf die tatsächlichen und wissenschaftlich nachgewiesenen, unerwünschten Wirkungen (sog. Nebenwirkungen) und Kontraindikationen von Methylphenidat. Zu diesen Thema sollte ein Arzt oder Apotheker befragt werden und die Fachliteratur konsultiert werden. Hinweise gibt auch Wikipedia [1].
Die hier gemeinte pauschale Ritalinkritik ist im Umfeld von Sekten oder Außenseitern im Gesundheitssektor häufig zu beobachten. Sie ist jedoch auch Gegenstand von parlamentarischen Anfragen gewesen und im Anti-NWO-Umfeld geläufig. Zu den aktivsten Gegnern einer Ritalinanwendung zählt Scientology bzw. ihr nahestehende Organisationen wie die Kommission für Verstöße der Psychiatrie gegen Menschenrechte e.V. (KVPM) oder ihr nahestehende Personen wie Michael Hinz. Bekanntere Ritalinkritiker sind der pauschale Impfgegner Hans Tolzin und als rechtsaußen bekannte Personen wie Jo Conrad und Jan Udo Holey.
An ADHS leidende Kinder werden in Esoterikerkreisen häufig auch als Indigo-Kinder bezeichnet.
Methylphenidat
Chemisch gesehen, ist Methylphenidat eine Amphetamin-ähnliche Substanz mit stimulierender Wirkung. Es wird aber nicht nur bei ADHS eingesetzt, sondern auch bei der Narkolepsie (plötzliche unkontrollierbare Schlafsucht) und zur Wirksamkeitssteigerung bestimmter Antidepressiva.
Methylphenidat wird mit gutem Erfolg seit Jahrzehnten zur Therapie hyperaktiver Verhaltensstörungen bei Kindern eingesetzt. Bei dieser Anwendung wird sowohl vom Hersteller als auch von den ärztlichen Fachgesellschaften zwingend gefordert, dass Ritalin nur im Rahmen eines umfassenden Therapieprogramms verwendet werden darf, zu dem auch psychologische, erzieherische und soziale Behandlungsmaßnahmen gehören müssen.
Methylphenidat wirkt bei tatsächlichen ADHS-Patienten paradox, das heißt, anstatt noch hyperaktiver zu werden, wird bei diesen Menschen die Hyperaktivität gedämpft und die Konzentrationsfähigkeit verbessert.
Methylphenidat hemmt die Wiederaufnahme von Dopamin und Noradrenalin in den Präsynapsen und erhöht so deren Konzentration im synaptischen Spalt. Dies führt zu erhöhtem Signalaufkommen am Rezeptor und unter anderem zu einer Erhöhung des Sympathikotonus. In geringem Maße sorgt Methylphenidat für die Freisetzung von Katecholaminen, die große Erhöhung der Dopaminkonzentration wird aber in erster Linie durch Wiederaufnahmehemmung erreicht.
Hypothesen zur Wirkung bei ADHS: Für die Wirkung von Methylphenidat gibt es unterschiedliche Erklärungsansätze. Eine Hypothese besagt, dass bei ADHS bestimmte Bereiche im frontalen Gehirn (früher wurde ADHS auch als eine striato-frontale Dysfunktion bezeichnet), die u.a. Impulse kontrollieren, weniger aktiv seien und durch Stimulanzien angeregt würden, wodurch das Gehirn seine Kontrollfunktionen besser wahrnehmen könne.
Laut einer weiteren Hypothese weisen Menschen mit ADHS eine erhöhte Anzahl und Aktivität von sogenannten Dopamin-Transportern auf. Dieses Rücktransportsystem der Nervenzellen sauge das von diesen Nervenzellen in den synaptischen Spalt freigesetzte Dopamin wie eine Art „Staubsauger“ wieder auf. Methylphenidat blockiere dieses Rücktransport-System vorübergehend, das heißt in aller Regel für drei bis fünf Stunden. Dadurch werde ein Zustand erzielt, der die Verfügbarkeit des Dopamins verbessert.
Ein anderer Erklärungsansatz (Plastizitäts-Hypothese) vermutet, dass in den besagten Hirnarealen zu wenig Rezeptoren für Dopamin existierten. Dieser Mangel an Rezeptoren führe dazu, dass hemmende Neuronen nicht ausreichend aktiviert würden. Durch die Gabe von Methylphenidat würden die Rezeptoren vermehrt mit Dopamin versorgt, so dass die Erregungsweiterleitung besser funktioniere. Auf Dauer könne sich jedoch das Rezeptorsystem verändern und immer unempfindlicher gegen den Botenstoff werden.
Bekannte Handelsnamen von Medikamenten die Methylphenidat enthalten sind: Ritalin, Medikinet, Equasym und Concerta.
Methylphenidat ist in der Anlage 3 des Betäubungsmittelgesetzes (BtMG) aufgelistet und unterliegt einer gesonderten Verschreibungspflicht durch Ärzte.
Wissenschaftlich bekannte, unerwünschte Wirkungen / Nebenwirkungen
Methylphenidat wird im allgemeinen sehr gut vertragen. Anfängliche Kopf- oder Bauchschmerzen und Schlafstörungen, die beim Einschleichen des Medikamentes auftreten können, verschwinden in der Regel nach den ersten Wochen wieder. 20-30% der Patienten sprechen jedoch nicht auf eine Behandlung mit Methylphenidat an und sind sogenannte Non-Responder. Bei diesen Patienten sollte man zu alternativen Medikamenten wie z.B. einem Amphetaminsaft [2] oder Strattera [3] (Wirkstoff Atomoxetin) greifen.
Kinder die mit Methylphenidat behandelt werden, müssen ihrem behandelndem Arzt in regelmäßigen Abständen zur körperlichen Untersuchung und Blutentnahme vorgestellt werden. So hat der Arzt eine Kontrolle, dass das Medikament vertragen wird.
Methylphenidat ist bei ADHS Mittel der ersten Wahl [4].
Falschbehauptungen und Verschwörungstheorien
Typische Behauptungen von Ritalinkritikern sind:
- Methylphenidat macht abhängig/süchtig. Nein, das Gegenteil ist der Fall. Laut einer Langzeitstudie von Huss [1] war das Suchtrisiko in der mit Methylphenidat behandelten Gruppe signifikant gesenkt. In dieser Studie gibt es keine Anhaltspunkte dafür, dass eine frühe Behandlung mit Methylphenidat mit einem erhöhten Suchtrisiko einhergeht. Der gegenteilige Effekt konnte bestätigt werden: Kinder, die unter ADHS leiden und frühzeitig und längerfristig mit Methylphenidat behandelt werden, griffen in der Folge seltener zu legalen und illegalen Drogen und entwickelten seltener eine Suchterkrankung. Eine sachgemäße Behandlung von ADHS-Kindern mit Methylphenidat kann daher als Schutzfaktor für die Suchtentwicklung angesehen werden. Außerdem führt die orale Aufnahme in der Regel zu einem flachen Dopaminanstieg und wird daher von Drogenkonsumenten meist nicht eingesetzt. Das Medikament flutet für einen "Kick" nicht schnell genug an.
- Das ADHS ist eine Erfindung aus der Zusammenarbeit von Psychiatrie und Pharmaindustrie. Auch diese Behauptung ist falsch, da das ADHS bereits im 19. Jahrhundert beschrieben wurde. Stattdessen sei das ADHS die Folge einer Fehlernährung. ADHS zeige sich nach Konsum von einfachen Kohlenhydraten, Zucker, Weißmehlprodukten, Cola, Hamburgern, Spaghetti, Chips, phosphathaltiger Nahrung usw. Allgemein werden im Ritalinkritikerumfeld eine Zivilisationsernährung beschuldigt, die zu einem angeblichen Mangel an Mineralstoffen und Vitalstoffen führe, der aber durch entsprechende käuflich zu erwerbende Nahrungsergänzungsmittel zu beseitigen sei. Andere Ritalinkritiker glauben, dass schimpfende Lehrer, missverstandene Worte, Videos und Erwachsenenkonversation verantwortlich seien. Auch sei das ADHS häufiger bei Alleinerziehenden Elternteilen zu beobachten. Hinzu kommen noch Beschuldigungen des Impfens, Amalgame und Schwermetalle als ADHS Ursache. Für all diese Behauptungen werden jedoch keine Belege genannt. Experten sind sich allerdings einig, dass neurobiologische Ursachen zugrunde liegen. Zwillings- und Adoptionsstudien [2] zeigen ein signifikant höheres Vorkommen von ADHS bei Geschwistern und Eltern. Dies lässt auf eine genetische Disposition schließen.
- Morbus Parkinson (sog. Schüttellähmung) als Folge der Ritalineinnahme. Ritalin wird seit ungefähr 50 Jahren eingesetzt. Es gibt auch zu dieser Behauptung keinen Beleg. [3]
- Ritalin verursacht Genschäden 2005 hatten amerikanische Forscher Hinweise darauf gefunden, eine neue Studie deutscher Forscher hat diesen Verdacht nicht bestätigt. [4]
Ritalin und Scientology
Die international operierende Sekte Scientology ist im Rahmen ihrer pauschalen Psychiatrieablehnung auch aktiv gegen Ritalin kampagnenmäßig tätig. Seit den 1980er Jahren verbreiten Scientology und mit ihr verbundene Organisationen Horrorgeschichten rund um die Anwendung von Ritalin bei ADHS. Die Kampagne wird mit E-Mails, lancierten Zeitungsartikeln und Einflussnahme auf Politiker geführt. Insbesondere wirft Scientology Eltern von ADHS-Kindern vor, diesen Drogen zu verabreichen und diese zu Drogensüchtigen zu machen. Ärzte würden das Medikament zu leichtfertig verordnen. Die entsprechende Diskussion ist in der Lage, viele Eltern, die sachlich nicht ausreichend informiert sind, zu verunsichern oder unter Druck zu setzen, da sie sich einerseits um die Schulleistungen ihrer Kinder sorgen, gleichzeitig aber auch um ihre körperliche und psychische Unversehrheit. So ist eine pauschale Ritalinkritik auch geeignet, in Eltern Schuldgefühle zu erzeugen.
Die Scientology-Organisation verbreitet auch die Mär, dass Ritalinanwender zu Gewalttätern, Schulmassaker-Täter und Mördern werden könnten und es werden entsprechende Listen angeblicher Ritalin-Gewalttäter verbreitet. Dem Verursacher des Gutenberg-Gymnasium Schulmassakers in Erfurt 2002, dem 19-jährigen früheren Schüler Robert Steinhäuser wird von Scientology ebenfalls der Gebrauch von Psychopharmaka zugesprochen. Steinhäuser erschoss zwölf Lehrer, zwei Schüler, eine Sekretärin und einen Polizisten. Danach brachte er sich selbst um. Er war kurz zuvor der Schule verwiesen worden. Auch Jo Conrad, der eng mit Michael Kent alias Michael Hinz zusammenarbeitet, mischte sich ein und forderte eine Überprüfung, ob Steinhäuser Ritain bekommen hätte.
Ein Anhänger des Glaubens an mögliche Gewalt nach Ritalingabe ist auch Jan Udo Holey, der sich wiederum auf ein Buch eines David Grossmann beruft, das im Verlag der La-Rouche-Gruppe erschien.
Ein bekannter Ritalinkritiker ist der Scientologe, PC-Techniker und medizinische Laie Helmut Kaeding, der den Webauftritt httpx://www.Ritalin-Kritik.de betreibt.
Der alternativmedizinische Markt für ADHS-Mittel
Als Alternative zu Ritalin werden im Scientology- und Ritalinkritikumfeld häufig verschiedene Nahrungsergänzungsmittel, Mittel aus der orthomolekularen Medizin und Vitamine angeboten.
- AFA-Algen: Zur angeblichen Erhöhung der Gehirnenergie (was auch immer das sein mag) wird auf die AFA-Algen verwiesen. Einen Nachweis zu deren Eignung bei ADHS gibt es indes nicht. Das BfArM und das BgVV warnten in einer Pressemitteilung vom 21. März 2002 vor AFA-Algen. (siehe Artikel: AFA-Algen). Andere Mittel am Alternativmarkt ohne Wirksamkeitsnachweise sind Kid-Plus, das Bestandteile der AFA-Algen enthalten soll und Juicepulver aus Kamutgrassprossen, Gerstengrassprossen und Alfalfa.
- L-Carnitin
- Zappelin: In Kreisen der Homöopathieanhänger wird auch das homöopathische Mittel Zappelin angepriesen. Die Zappelin Streukügelchen enthalten Chamomilla recutica D12, Kalium Phosphoricum D6, Delphinium staphisagria D12, Valeriana officinalis D6. [5] Eine postulierte Wirkung bei ADHS kann auf dem Placeboeffekt beruhen. In wissenschaftlichen Studien konnten nur eine geringe oder keine Wirksamkeit von homöopathischen Mitteln wie Zappelin festgestellt werden. [6][7]
Weblinks
- Scientology gegen Ritalin
- Die Sehnsucht nach Gesundheit, Heil und Heilung-Tagungsband http://home.arcor.de/eimuc/2006.pdf :http://home.arcor.de/eimuc/Regenstaufindigo.pdf
- Esoterisches - Heil für Kinder und Jugendliche?-Tagungsband http://home.arcor.de/eimuc/2005.pdf
Quellennachweise
- ↑ http://www.diss.fu-berlin.de/diss/receive/FUDISS_thesis_000000002733
- ↑ http://www.journalmed.de/newsview.php?id=1018
- ↑ http://www.agadhs.de/public/wsdn/dpa_warnung_spaetfolgen.html
- ↑ http://www.scinexx.de/wissen-aktuell-6167-2007-03-05.html
- ↑ Apotheken Journal (2002), S. 41
- ↑ http://laekbw.dgn.de/25/10praxis/88arzneimitteltherapie/07091.pdf
- ↑ Martinius, J. (2003): Mogelpackung – Stellungsnahme zu Zappelin. In: Pädiatrische Praxis; Vol. 63; Nr. 1; S. 168-169