Aurikulotherapie
Die Aurikulotherapie (auch Ohrakupunktur), ist eine Variante der in China begründeten Akupunktur. Sie wurde 1956 vom französischen Arzt Paul F. M. Nogier aus Lyon begründet und breitete sich von dort u.a. bis China aus. Sie ist kein integraler Bestandteil der chinesischen Akupunktur, sondern bildet ein in sich geschlossenes, eigenständiges System.
Die Ohrakupunktur beruht nicht auf der Meridianlehre der Akupunktur. Vielmehr geht sie davon aus, dass sich auf der Ohrmuschel ein Schema des menschlichen Organismus abbilden würde. Dabei wird der Organismus auf dem Kopf und in hockender Stellung abgebildet. Nogier ordnete die einzelnen Körperpartien bestimmten Stellen an der Ohrmuschel zu.
Mit speziellen Geräten wird der Hautwiderstand der postulierten Akupunkturpunkte gemessen. Bei Rechtshändern tut man dies am linken Ohr, bei Linkshändern am rechten Ohr. Die Szene liefert übrigens keine glaubwürdige Anleitung für das zu testende Ohr, wenn der Patient beidhändig gut schreiben kann, was zwar selten ist, aber in 5-8% der Fälle vorkommt.
Therapiert wird dann mit Hilfe von Akupunkturnadeln, die in die Punkte gestochen werden. Es kommen auch Massagegriffel oder Druckkügelchen zum Einsatz, wenn nicht gestochen werden soll. Die Behandlung wird im Abstand von wenigen Tagen (mehrfach) wiederholt. Es werden auch Dauernadeln verwendet, die Widerhaken aufweisen und mehrere Tage liegen bleiben.
Anpreisung für die verschiedensten Indikationen
Die Befürworter behaupten, mit der Methode alle Schmerzen, welcher Art sie auch immer seien, beeinflussen, lindern oder ausschalten zu können. Dies reiche von traumatischem Schmerz z.B. nach Unfällen über Neuralgien, Kopfschmerzen jeder Form und Genese, Ischias, Phantomschmerzen, Schmerzen bei rheumatischen Anfällen oder bei Claudicatio intermittens bis zum Herpes Zoster-Schmerz. Bereits Nogier hat die Aurikulotherapie für die Behandlung aller Leiden empfohlen, die das zentrale Nervensystem betreffen. Furcht, Platzangst, Besessenheit, Konzentrationsmängel, Schwindel, Stottern usw. sind einige Beispiele. Eine besondere Bedeutung proklamiert die Ohrakupunktur bei der Suchtbehandlung (Alkohol-, Drogen- oder Medikamentenabusus, zur Raucherentwöhnung, zur Bekämpfung der Esssucht). Ohrakupunkteure behaupten, auch bei Allergien, bei Asthma, bei Entzündungen und Spasmen innerer Organe von Pankreasaffektionen bis zur Kolitis helfen zu können. Für keine einzige dieser Therapieindikationen gibt es einen glaubhaften Wirksamkeitsnachweis!
Kritik an der Methode ist mehr als berechtigt
Es gibt eine Untersuchung von Sakka (2002), in der 39 Raucher mit Aurikulotherapie behandelt wurden, um ihr Suchtleiden aufzugeben. Nach 2 Monaten hatten 38.5% der Probanden das Rauchen aufgegeben. Dies erscheint als Wirksamkeitsnachweis des Verfahrens, ist aber absolut unglaubwürdig. Eine entsprechende Erfolgsrate liegt absolut im Bereich des Üblichen bei Personen, die das Rauchen beenden wollen. Auch ist die Beobachtungszeit zu kurz gewesen, um eine dauerhafte Wirkung der Methode zu ermitteln. Normalerweise kommt es innerhalb des ersten Jahres nach Entschluss zur Nikotinabstinenz in mehr als der Hälfte der anfänglich Suchtbefreiten zu einem Rückfall.
Melzack und Katz (1984) konnten bereits zeigen, dass die enthusiastische Behauptung von Aurikulotherapeuten, alle möglichen Schmerzformen mit der Methode lindern zu können, sich in der Realität nicht bewahrheitete. In einem kontrollierten Cross-Over-Versuch wurden 36 an chronischen Schmerzen leidende Patienten zuerst mit Aurikulotherapie und nachfolgend mit einer Scheinbehandlung therapiert. Unter Verwendung eines Schmerzscore-Fragebogens (McGill Pain Questionnaire) zu beiden Therapiezeitpunkten konnte kein signifikanter Unterschied in der subjektiven Schmerzempfindung ermittelt werden.
Anatomisch ist die Idee der Projektion des Körpers auf dem Ohr nicht haltbar. Es gibt bisher auch keine seriösen Studien, die eine Korrelation zwischen organischen Befunden und Akupunkturpunkten am Ohr bewiesen hätten. Verschiedene Vertreter der Theorie geben sich widersprechende Lokalisationen der Akupunkturpunkte an. In einem Fall ist dort, wo angeblich der Fuß abgebildet wird, die Gebärmutter lokalisiert und das Gehirn kann wahlweise gegen Zunge, Mandeln oder Nase ausgetauscht sein. Die Ohrakupunktur ist ein Placeboverfahren, kann somit den Patienten für eine bestimmte Zeit ablenken, das Grundleiden aber nicht beseitigen.
Die Szene in Deutschland
Hauptvertreter der Szene ist der Berliner Heilpraktiker Michael Noack. Die Arbeitsgemeinschaft für klassische Akupunktur und traditionelle chinesische Medizin e.V., die seit 1999 von Noack geleitet wird, unterstützt ihn bei entsprechenden Marketingkampagnen. Für Kurse werden vergleichsweise hohe Gebühren verlangt. Man macht das Geschäft mit dem Verkauf von Lasergeräten zur Ohrakupunktur, man vertreibt Bücher, Akupunkturnadeln und Massagegriffel.
Die Krankenkassen erstatten die Methode üblicherweise nicht. Die Kosten pro Sitzung können 30-40 Euro betragen. Es handelt sich, wie bei der Akupunktur um eine zwar lauthals angepriesene, in weiten Teilen aber keinen Wirksamkeitsnachweis erbringende Szene. Therapeuten können bei entsprechend leichtgläubigen Patienten gute Geschäfte machen.
Nebenwirkungen sind möglich
Es gibt direkte und indirekte Nebenwirkungen der Methode. Als direkte Nebenwirkungen sind beispielsweise Infektionen durch Akupunkturnadeln anzusehen, die durch die Ohrhaut bis zum Knorpel eingestochen werden. Da das Ohr vergleichsweise schwach durchblutet ist, ist die Chance auf lokale Infektionen, die bis zum Ohrmuschelknorpel reichen und diesen zerstören können, durchaus vorhanden. Indirekte Nebenwirkungen können dadurch entstehen, dass bei akuten Krankheiten, die einer seriösen Therapie bedürfen, durch die marktschreierische Anpreisung der Ohrakupunktur und ihre angebliche multifunktionale Wirksamkeit eine schnelle und zielgerichtete Therapie unterbleibt.
Quellennachweise
- Melzack R, Katz J: Auriculotherapy fails to relieve chronic pain. A controlled crossover study. J Am Med Assoc, 251, 1041-1043, 1984
- Sakka F: Role of auriculotherapy in smoking cessation. Personal experience. Tunis Med, 80, 217-219, 2002
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