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Version vom 1. März 2009, 01:25 Uhr
Miasmentheorien sind inzwischen überholte historische Konzepte zur Krankheitsentstehung aus der Medizingeschichte die zu Beginn der Bakteriologie diskutiert wurden.
Zu Beginn des 19. Jahrhunderts konnte man sich aufgrund mangelnder Kenntnisse im Bereich der Mikrobiologie und der Mikroskopie die Ursachen vieler Erkrankungen nicht erklären. Eine der Geißeln der Menschheit, die Cholera, schlug (ausgehend vom indischen Subkontinent, v.a. den Wasserläufen in Bengalen) in Europa im 19. Jahrhundert insgesamt fünfmal in riesigen Epidemiewellen erbarmungslos zu und kostete zehntausenden Menschen das Leben. Man wusste zwar recht bald, dass gerade diese Seuche in jenen Quartieren am häufigsten anzutreffen war, in denen die Trinkwasser- und Abwasserverhältnisse am miserabelsten waren, aber den eigentlichen Grund dieser dramatisch verlaufenden Durchfallerkrankung mit einer Todesrate bis zu 60% kannte man nicht.
Max von Pettenkofers Miasmen- bzw. Kontagienlehre
Der am 3.10.1818 in Lichtenheim bei Neuburg geborene Max Pettenkofer, Sohn eines armen Moorbauern, studierte Medizin in München und promovierte 1843.
Als Mitarbeiter des berühmten Chemikers Justus Liebig fand er das Kreatinin im menschlichen Urin und entwickelte eine nach ihm benannte Violettreaktion zum Nachweis von Gallensäuren in Körpersäften. Als Assistent am Münchner Hauptmünzamt verfeinerte er das Gold-Silber-Scheideverfahren und erfand eine Methode, um aus Holz Leuchtgas herzustellen. Gemälderestauratoren verschaffte er mit Copaivabalsam ein Mittel, um verschmutzte oder verschimmelte Ölbilder zu reinigen und aufzufrischen (Karger-Decker 1991). 1847 erhielt er eine außerordentlicher Professur in München ('diätische Chemie'), die ihn im Bereich der Hygienelehre tätig werden ließ. So veröffentlichte er eine epochemachende neue Untersuchungsmethode zur 'Bestimmung der Kohlensäure in der Luft und im Wasser' und publizierte Arbeiten über die Ventilationsverhältnisse in Wohnungen, den physikalischen Verhältnissen von Kleidung, prüfte Unterschiede zwischen Ofen- und Luftheizung, den Luftwechsel im Mauerwerk, die Bodenluftverhältnisse und hierbei besonders Verunreinigungen durch Gasausströmungen aus den Münchner Kanal- und Abflusssystemen. Ab 1855 wurde er ordentlicher Professor und trat ab dieser Zeit verstärkt für die Hygienelehre ein. Ihm ist die Gründung des ersten deutschen Hygieneinstituts im Jahre 1865 zu verdanken. Diesem Vorbild folgten andere Länder mit eigenen Hygienebewegungen - z.b. dem 'sanitary movement' in England durch den Rechtsanwalt Edwin Chadwick (1800-1890) und die Ärzte Southwood Smith (1788-1861) und John Simon (1816-1904). Auch in der Bekämpfung der Cholera machte von Pettenkofer sich einen Namen. Durch sein engagiertes Auftreten ist es Max von Pettenkofer zuzurechnen, dass eine langjährige Choleraepidemie in München beherrscht werden konnte - alleine durch hygienische Maßnahmen und Empfehlungen. 1873 wurde er zum Vorsitzenden der vom Reichskanzler berufenen Cholerakommission ernannt, 1883 erhielt er den erblichen Adelstitel verliehen.
Aufgrund der Lebensgeschichte und seiner wissenschaftlichen Laufbahn als Chemiker, Analyst und Hygieniker ist es nachträglich leicht verständlich, dass von Pettenkofer den Grund für Seuchen wie der Cholera in Ausdünstungen aus dem Boden sah. Die von ihm entwickelte 'Miasmentheorie' erklärte die Entstehung und Ausbreitung epidemischer Krankheiten allein durch schlechte Ausdünstungen der Umwelt aus dem Boden, Sümpfen, Wasser oder Luft. Er wurde in seinen Ansichten durch die Erfolge in der Bekämpfung der Münchner Choleraepidemie bestärkt, obgleich aus heutiger Sicht natürlich nicht die 'Miasmen' bekämpft wurden, sondern den Cholerabazillen ihre Vermehrungsmöglichkeiten genommen wurden. Unabdingbare Voraussetzung für die Bekämpfung bakteriell übertragbarer Krankheiten wie Cholera, Typhus u.a. ist jedoch eine exzellente Kanalisation, wassergespülte Toiletten und eine separate Frischwasserzuleitung. In diesem Bereich ist von Pettenkofer stets aktiv gewesen und hier gebührt ihm viel Respekt.
Die Miasmentheorie bröckelt
Der wissenschaftliche Ruhm, den der Erfolg seiner Hygiene- und Miasmenlehre von Pettenkofer einbrachte, währte aber nicht ewig. Grund dafür war, dass trotz sanierender Maßnahmen die Cholera weiterhin in Europa grassierte und sie sich zum fünften (und im 19. Jahrhundert letzten) Male ab 1883 mit dem Pilgerverkehr aus Indien nach Mekka kommend in Europa ausbreitete und letztlich auch in Deutschland, nämlich der Hansestadt Hamburg, mehrere tausend Todesopfer forderte.
Parallel zu den größeren Hygienebewegungen Deutschlands und Englands wurden mit dieser Epidemie die alten Kontagienlehren des Girolamo Fracastoro (1478-1553) wiederentdeckt.
Dieser beschrieb bereits 1530, also noch über 150 Jahre vor der Erfindung der ersten Mikroskope, die Theorie der Ansteckung durch spezifische Keime. Völlig verschwunden war diese Theorie zwar nie, sie wurde aber nur vereinzelt aufgegriffen und erst in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts durch Jakob Henle (Contagium vivum) erneut betont. Man hatte bereits mehrere (parasitäre) Krankheitserreger finden und ihnen Krankheit zuordnen können:
- 1832: Trichinen-Beschreibung durch Richard Owen
- 1835: Trichomonas vaginalis durch Alfred Donnè
- 1837: Favus-Pilz durch Lukas Schönlein
- 1851: Distomum haematobium (Bilharziose-Erreger) durch Theodor Bilharz
Zu Beginn des 19. Jahrhunderts herrschte noch ein romantischer Medizinbegriff vor und berühmte Bakteriologen wie Louis Pasteur (1822-1895) und Robert Koch (1843-1910), die bedeutsame Erregernachweise führten, mussten sie gegen die alten Vorstellungen der Entstehung niederer Organismen durch Urzeugung (z.B. entstanden Maden scheinbar von selbst aus verfaulendem Fleisch) ankämpfen und die Vielgestaltigkeit (Pleomorphie) und allseitige Verbreitung (Ubiquität) von Bakterien darlegen. Dass selbst Louis Pasteur anfänglich nicht immer von der krankheitserzeugenden Bedeutsamkeit so mancher Bakterien überzeugt war, erkennt man aus dem von ihm stammenden Spruch: 'Das Bakterium ist nichts, das Milieu ist alles', der auch heute noch gern im alternativmedizinischen Bereich als Sinnbild dafür benutzt wird, dass nicht immer ein Keim der Krankheitsauslöser sein müsse, sondern die Abwehrlage, eine nicht näher definierte 'Immunschwäche' oder gar mystische Einflüsse durch das (miasmatisch anmutende) 'Feinstoffliche'.
Mit der Erfindung leistungsfähiger Mikroskope ab der Mitte des 19. Jahrhunderts Hand in Hand mit der Entwicklung stetig besserer Vitalfärbungen und Anzuchtmethoden, die es erlaubten, Bakterien in lebender Form zu untersuchen, wurden immer mehr Krankheitserreger entdeckt:
- 1876: Milzbranderreger durch Robert Koch
- 1879: Gonokokken durch Albert Neissere
- 1880: Mocobycterium leprae durch Armauer Hansen
- 1880: Salmonella typhi durch Karl J. Eberth
- 1882: Mycobacterium tuberculosis durch Robert Koch
- 1883: Vibrio comma (Choleraerreger) durch Robert Koch
- 1885: Clostridium tetani durch Frau J. Rosenbach
Die Cholera besiegt Pettenkofers Miasmentheorie
Das Ende der Miasmentheorie Max von Pettenkofers wurde durch die 5. Choleraepidemie eingeläutet. Es kam zu einem erbitterten Streit zwischen Max von Pettenkofer und anderen Ärzten wie Robert Virchow, dem Begründer der Zellularpathologie, und Robert Koch.
Robert Koch, am 11.12.1843 in Clausthal geboren, schloss 1866 in Göttingen sein Medizinstudium ab und war danach Assistenzarzt im Allgemeinen Krankenhaus in Hamburg. Zunächst arbeitete er jahrelang als relativ unscheinbarer Landarzt und forschte mit eigenen Mitteln über Bakterien. Als er mit seiner Schrift 'Zur Ätiologie des Milzbrandes' im Jahre 1876 medizinisches Interesse erregte, erfolgte sein rascher wissenschaftlicher Aufstieg. Schon 1880 war er ordentliches Mitglied des Reichs-Gesundheitsamtes und er übernahm nach der Ernennung zum Geheimen Regierungsrat im Jahre 1883 sogar die Leitung der Cholera-Kommission, die die Ursache der Epidemie in Ägypten und Indien untersuchen sollte. Damit wurde er zum direkten Rivalen Pettenkofers, der selbst Vorsitzender der Cholerakommission gewesen war.
Vor der Entdeckung des Choleraerregers durch Robert Koch war die Auseinandersetzung zwischen Bakteriologen und Miasmatikern sehr gefühlsbetont ausgefochten worden, wobei von den Verfechtern der Miasmentheorie nicht immer logische Fakten und Tatsachen, sondern wissenschaftliche Ehre, Achtung und Ruhm als Argumente angeführt wurden. Max von Pettenkofer war der Meinung, dass sich die Cholera aufgrund von Ausdünstungen ergeben würde. Im wesentlichen argumentierte er:
- manche Orte seien gegen die Cholera immun trotz Einschleppung der Cholerabazillen,
- die meisten Cholerafälle in Kalkutta seien einer 26jährigen Statistik zufolge in der heißen und trockenen Zeit, also der in der Bazillen ungünstigsten, vorgekommen,
- die Trinkwassertheorie Kochs (z.B. die Verbreitung cholerabazillenhaltigen Trinkwassers durch die Wasserwerke der Stadt Hamburg) sei unhaltbar und oberflächlich
- die Cholerahäufigkeit und die Ansammlung großer Menschenmassen stünden in keinem nachweislichen Zusammenhang.
- durch Schiffe würde die Cholera nur dann verbreitet, wenn die örtliche und zeitliche Disposition gegeben sei. Eingeschleppt würde der Keim fortwährend, er entwickele sich aber nur, wenn die Disposition vorhanden sei.
Um zu beweisen, dass er Recht und Koch hinsichtlich der krankheitserzeugenden Wirkung der Cholerabazillen Unrecht habe, führte Max von Pettenkofer am 7.10.1892 einen Selbstversuch durch. Er nahm einen Lösung aus Cholerakeimen ein, die aus der von der Cholera betroffenen Hansestadt Hamburg stammten und in einer Agar-Reinkultur bzw. einer daraus frisch angesetzten Boullionkultur angezüchtet worden waren. Da bereits bekannt war, dass saurer Magensaft die Bazillen abtöten konnte, sorgte Pettenkofer dafür, dass sein Magen fast leer war (er hatte seit 2 1/4 Stunden nichts gegessen) und er gab der Bazillenflüssigkeit noch kohlensaures Natron bei, um vorhandene Säure zu neutralisieren. Er trank 1 ccm der Boullion und hatte nur leichten Durchfall und 'Darmgrollen' zu beklagen. Er überlebt den Versuch ohne größere Probleme, obgleich in seinen Stühlen massenweise Cholerabazillen nachweisbar waren. Emmerich, ein Schüler Pettenkofers, nahm am 17.10.1892 0,1 ccm der gleichen Boullionkultur verdünnt und alkalisiert zu sich und überlebte nach heftigerem Krankheitsverlauf den Versuch ebenso. Er behandelte sich mit einem Klystier, 15 Tropfen Tet. theb., Acid. tanic. (0,1) und Opiumpulver. Er hatte zwar heftige Durchfälle und großen Durst, häufiges 'Kollern im Darm', belegte Stimme und das Gefühl von Trockenheit im Pharynx, aber nicht einmal der Harnfluss war auf der Höhe des Krankheitsprozesses auffallend vermindert und sein 'Allgemeinbefinden war ungestört'. Auch bei ihm waren massenweise Cholerabazillen in den Stühlen vorhanden. Auch ein Herrn Klein aus Bombay verschluckte eine Boullion aus Koch‘schen Choleraerreger, ohne zu erkranken.
Diese wissenschaftliche Nuss war auch für Robert Koch schwer zu knacken. Aus heutiger Sicht hingegen ist es leicht, diesen Selbstversuch zu erläutern. Es gibt nämlich nicht nur einen, sondern zwei Choleratypen (sog. Biotypen). Den ersten (Vibrio cholerae 0:1) entdeckte Koch 1883, den zweiten (Vibrio cholerae El Tor; heute nennt man ihn Biovar El Tor) fand Gotschlich 1906. Heute unterteilt man beide Biotypen in verschiedene Subtypen: Vibrio cholera ogava, Vibrio cholera inaba, Vibrio cholera ogava Biotyp El Tor, Vibrio cholera inaba Biotyp El Tor. Neben den Spezies Vibrio cholerae 0:1 und Vibrio El Tor lassen sich serologisch 137 weitere Gruppen, sog. nicht-agglutinierende Vibrionen, differenzieren. Wichtig ist dabei, dass diese Biotypen und Subtypen unterschiedlich gefährlich verlaufende Choleraepidemien auslösen. Besonders gefährlich ist dabei der von Robert Koch entdeckte Erreger Vibrio cholarae 0:1 (unbehandelt bis 60% Mortalitätsrate), etwas weniger gefährlich ist der Biotyp von Gotschlich, der nur in 15-30% der Fälle unbehandelt zum Tode führt. Die anderen Subtypen führen oftmals zu schweren Durchfällen, jedoch wesentlich seltener (1-10%) zum Tode. Es ist demnach anzunehmen, dass Pettenkofer und seine Befürworter wohl das Glück hatten, weniger gefährliche Cholera-Biotypen einzunehmen, deren Mortalitätsrate gering war. Da alle drei Miasmatiker große Mengen Getränke zu sich nahmen - und auch heute noch zählt die Gabe von zuckerhaltigem, sauberem Wasser in großen Mengen zur Standardtherapie der Cholera - ist denkbar, dass sie einem im Vergleich zu Vibrio cholera 0:1 vergleichsweise niedrigeren Gefährdungslage ausgesetzt waren.
Letztendlich setzte sich das bakteriologische Erklärungsmodell Robert Kochs durch. Koch empfahl u.a., sämtliche Nahrungsmittel und vor allem das Trink- und Gebrauchswasser vor Benutzung abzukochen und sämtliche Gegenstände, die in Kontakt mit Cholerakranken gekommen waren, zu sterilisieren. Koch drängte vor allem in der Hansestadt Hamburg auf die beschleunigte Errichtung von Trinkwasserfilteranlagen, um das choleraversuchte Elbwasser vor der Einleitung in die Trinkwassersysteme zu reinigen.
Max von Pettenkofer wurde im Verlauf des wissenschaftlichen Streits, der sich über mehrere Jahre hinzog, entthront und zog sich aus dem Wissenschaftsleben zurück. Am 10. Februar 1901 schied von Pettenkofer als vereinsamter Greis durch Selbstmord aus dem Leben.
Die Miasmenlehre ist immer noch lebendig
Auch heute noch gibt es 'Miasmatiker', allerdings überwiegend im Bereich der Homöopathie. Hier jedoch handelt es sich nicht um die Pettenkofer'sche Miasmen- oder Kontagienlehre, sondern um 'Miasmen', die von Samuel Hahnemann selbst als ursächlich für die Erzeugung von Krankheiten angesehen wurden. Hier muss man wissen, dass der gleiche Begriff (Miasma) für völlig unterschiedliche Gedankenmodelle gebraucht wird. Hahnemann veröffentlichte seine ('homöopathischen') Miasmentheorie in seinem Buch 'Die chronischen Krankheiten' im Jahre 1828 - etwa zu der Zeit, als er die D30-Potenzen als Standardverdünnung in die Homöopathie einführte. Im Gegensatz zu Max von Pettenkofer, der unter 'Miasma' Ausdünstungen z.B. aus dem Boden meinte, beschrieb Hahnemann sein 'Miasma' als eine Wolke oder einen Nebel innerhalb des menschlichen Organismus. Hahnemann führte die Ursache aller Erkrankungen auf drei Wurzeln zurück - Psora (also schuppige Hautveränderungen), Syphilis (eine Geschlechtskrankheit) und eine unterdrückte Gonorrhoe.
Bezeichnet man heute Homöopathen, sie sich selbst als Miasmatiker bezeichnen können, genüsslich als ebensolche, muss man differenzieren zwischen der Vorstellungswelt des 'Hahnemann'schen Miasma' und der Kontagien-/Miasmenlehre des Max von Pettenkofers. Beides hat miteinander nichts zu tun.
Siehe auch: Pleomorphismus
Quellennachweise
- Eckart W: Geschichte der Medizin. Thieme Verlag, Stuttgart, 12. Aufl., 1998
- Karger-Decker B: An der Pforte des Lebens. Edition Q, Band 1, 1991
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