Diskussion:Gelsenkirchener Behandlungsverfahren nach Stemmann
Bericht 1
Zitat:
ERFAHRUNGSBERICHT einer Mutter in der Kinderklinik Gelsenkirchen
Der nachfolgende Erfahrungsbericht stammt von einer Mutter, die im Jahr 2003 (zu dem Zeitpunkt waren die heute Verantwortlichen bereits seit 10 Jahren in der Abteilung tätig) mit ihrem damals sechs Monate alten Baby auf der psychosomatischen Station der Kinderklinik Gelsenkirchen aufgenommen wurde. Anlass war ein von der Kinderärztin geäußerter Verdacht, dass eine Neurodermitis vorliegen könnte.
[Vorbemerkung: Die Mutter hat den dreiwöchigen Aufenthalt komplett durchgezogen. Neben den Erfahrungen in der Klinik beschreibt sie auch die Jahre danach, in denen sie das Klinikprogramm zunächst zu Hause weitergeführt hat. Wir finden es sehr mutig und wertvoll, dass sie ihre Geschichte erzählt. Wir bitten deshalb ausdrücklich darum, von Verurteilungen der Eltern abzusehen.]
„TEIL 1 - IN GELSENKIRCHEN
Im Winter 2003 wurden meine sechs Monate alte Tochter F. und ich in Gelsenkirchen stationär für drei Wochen aufgenommen. F. hatte an mehreren Stellen ihres Körpers kleine Ekzeme. Im Rahmen der U 5 meinte unsere Kinderärztin, dass es sich dabei evtl. um Neurodermitis handeln könnte. In meinem Freundeskreis war eine Familie mit zwei sehr stark an Neurodermitis erkrankten Kindern. Ich hatte große Angst, dass dieser Leidensweg auch meiner kleinen Tochter bevorstehen könnte. Daraufhin empfahl mir die Kinderärztin eine „Spezialklinik“, von der sie gehört habe. Ich war ziemlich froh um die Aussicht, das Hautproblem ganz früh in den Griff bekommen zu können.
Bereits am ersten Tag des Klinikaufenthalts war ich irritiert. Es fand zunächst ein Aufnahmegespräch statt. In diesem ging es allerdings überhaupt nicht um F.s Haut. Es wurde vor allem nach ihrem Verhalten in vielen verschiedenen Situationen gefragt, nach der Häufigkeit des Stillens und außerdem nach dem Geburtsverlauf. Ich erzählte, dass es bei F.s Geburt Komplikationen gab und meine Tochter die ersten Tage auf einer Intensivstation verbringen musste. Auf dieser Grundlage wurde bei meiner Tochter dann eine Neurodermitis diagnostiziert. Und zwar soll der Stress bei der Geburt und die Trennung in den ersten Lebenstagen bei meiner Tochter zu einem „Trennungstrauma“ geführt haben, welches dann wiederum die Neurodermitis ausgelöst habe. Um die Neurodermitis zu heilen, müsse die Ursache, also das „Trennungstrauma“, überwunden werden, deswegen seien Salben und ähnliches auf keinen Fall die richtige Behandlungsmethode. Es wurde gesagt, dass man viel Erfahrung auf diesem Gebiet habe und meine Tochter heilen könne.
Den Rest des Tages verbrachten wir damit, uns zu orientieren und Kontakt zu den Mitpatienten bzw. deren Müttern aufzunehmen. Mir fiel auf, dass eine sehr seltsame Stimmung herrschte. Alles kam mir sehr lieblos vor, überall schrien Kinder und das Verhalten der Mütter und des Personals war in meinen Augen unnatürlich und abweisend.
Am nächsten Tag ging es los. Es standen vor allem Gruppenvorträge, aber auch Einzelgespräche und Autogenes Training auf meinem Programm. Während der einzelnen Programmpunkte und auch während des Essens mussten wir die Kinder in der Mäuseburg abgeben. Hiermit tat ich mich anfangs unglaublich schwer. F. war die jüngste Patientin, die meisten anderen Kinder konnten schon laufen oder sogar reden.
Ich sollte sie nicht in den Arm einer Betreuerin geben, sondern in eine Ecke auf den Boden legen. Ich fragte nach einer Decke zur Unterlage für den winterkalten PVC-Boden, bekam aber nur die Antwort: „Das braucht die nicht“. Es gab dort nur weinende und verzweifelte Kinder und mein Baby lag mittendrin auf dem Boden. In dieser Situation wurde ich aufgefordert, zügig und ohne mich umzudrehen die Mäuseburg zu verlassen.
Die Kinder wurden vom Personal nicht angesprochen oder angeleitet, sondern sich selbst überlassen. Schreiende Kinder und Babys überall. Die Babys lagen auf dem Boden rum. Einmal als ich F. abholte, hatte sie sich zu einem anderen Baby hingerobbt und lutschte an dessen vereitertem Ohr rum. Ein Bild, das ich nie vergessen werde.
In den Vorträgen ging es überwiegend darum, wie Eltern dem Kontrollzwang der Kinder begegnen sollten und wie ausgefuchst Kinder denn seien. Immer wieder wurde gesagt, wie wichtig es ist, dem Kind die an sich gerissene Kontrolle wieder wegzunehmen. Ja, auch meine sechs Monate alte Tochter soll mich schon komplett kontrolliert und tyrannisiert haben. Dieser Zahn müsste ihr mit allen Mitteln gezogen werden. Dazu gehörte auch, dass ich sofort abstillen sollte, um ihr diese „Ausrede“ nach Nähe zu nehmen, denn Stillen wäre ein Mittel, die Mutter an sich zu binden. Innerhalb einer Woche sollte der SÄUGLING komplett abgestillt sein. Stattdessen sollte ich sie zu strikt fest gelegten Zeiten mit Sojamilch (!!!) füttern.
Zusätzlich sollte F. zum Schlafen in ein anderes Zimmer verlegt werden. Sie wurde abends in das Gitterbett gelegt und aus dem Zimmer geschoben. Ich durfte nicht mit. Ich durfte nicht mal sehen in welches Zimmer sie geschoben wurde! Es hieß, am nächsten Morgen um 7 Uhr darf ich sie wiederhaben. Mein Magen schmerzte, mir war übel, ich stand unter maximalem Stress.
Ich habe geweint, sie sollen mir mein Baby dalassen, aber ich wurde einfach ignoriert. Als ich völlig verzweifelt, aber überzeugt, äußerte, dass ich die Klinik sofort mit meinem Kind verlassen will, kam dann sofort Personal, welches mich beruhigte und mir klar machte, dass die Behandlung hier der einzige richtige Weg sei, wenn ich ein gesundes Baby möchte. Immer wieder kam dieser Satz: „Seien Sie stark - für Ihr Baby. Wenn sie wollen, dass es Ihrem Baby gut geht, dann halten Sie durch“. Ich habe mich dem dann gefügt. Nachts habe ich sie schreien gehört. Es war herzzerreißend!
Am nächsten Morgen erzählten mir die Schwestern kurz von der Nacht. Wie hartnäckig F. doch sei, eine „harte Nuss“. Sie würden aber angemessene Maßnahmen ergreifen. Sie sagten mir, wie ich dann auch vorgehen solle, sollte es auch nach dem Aufenthalt nochmal zu „Schwierigkeiten“ nachts kommen. Licht anmachen, sie aus dem Bett nehmen, auf den kalten Wickeltisch legen und ihr ein Fieberthermometer in den Po schieben. Anschließend solle ich sie wieder ins Bett legen und allein im Dunkeln zurücklassen. So würden Babys schnell verstehen, dass nächtliches Weinen nur unangenehme Folgen hat und schnell Ruhe geben.
Ich wehrte mich nicht nur innerlich gegen dieses Programm, sondern machte meinen Unmut auch deutlich. In der ersten Woche saß ich jeden Abend auf gepackten Koffern und wollte die Klinik verlassen. Dann wurde ich zurück ins Zimmer geordert und es kamen abwechselnd die zuständige Schwester oder einer der Therapeuten, Psychologen oder Ärzte zu mir und überredeten mich, ein paar Tage abzuwarten. Wenn ich dann immer noch gehen wolle, könne ich es ja tun. Aber mir müsste eben auch bewusst sein, dass es dann meine Schuld sei, dass F. nicht gesund wird. Eine Genesung ohne diese Behandlung wurde als abwegig dargestellt und eine zweite Chance würde ich hier nicht bekommen. Das hat immer krass Wirkung bei mir hinterlassen. Auch wenn F.s Hautläsionen nach wie vor minimal waren, hatte ich in der Klinik viele stark von Neurodermitis betroffene Kinder direkt vor Augen. Mir wurde vermittelt, dass DAS die Zukunft von F. wäre, würde ich jetzt gehen. Und immer wieder, dass es dann meine Schuld sei, weil ich meinem Kind die notwendige Hilfe vorenthalten habe. Also blieb ich.
Ich hörte F. schreien. Ich weinte ins Kissen. Und das alles, um eine vermeintliche Neurodermitis zu heilen. Es ging meinem Baby und mir wirklich sehr schlecht. Aber ich blieb. Unglaublich. Im Nachhinein ist es mir unbegreiflich. Ich war wohl zu schwach. Oder die „Fachleute“ zu stark. Vielleicht beides.
In Woche 2 fing ich an, die Vorträge nicht mehr so schlimm zu finden und hörte aufmerksamer zu. Das Trennungstraining fiel mir leichter und an die schmerzenden Brüste hatte ich mich gewöhnt. Auch der schroffe Umgang seitens des Personals mit den Kindern brachte mich nicht mehr aus der Fassung. Zwar kamen in mir immer mal wieder Zweifel auf – aber dann fand ein weiteres Einzelgespräch statt, welches die Zweifel ausradierte.
Und in Woche 3 war ich dann tatsächlich soweit, dass das alles total Sinn ergab und ich überzeugt von diesem Behandlungsverfahren war. Das autogene Training in der Großgruppe kam mir nicht mehr sektenhaft vor und ich verbündete mich mit anderen Müttern im Kampf gegen das Bauchgefühl und gegen unsere Kinder.
Nach drei Wochen verließ ich schließlich die Gelsenkirchener Kinderklinik mit genug „Rüstzeug“ gegen die ständigen Manipulationsversuche meines Babys. Sicherheitshalber wurde ich auch Mitglied im Verein „Allergie und Umweltkrankes Kind e. V.“. Der Verein wurde immer wieder in den Seminaren erwähnt. Ein Aufnahmebogen fand sich in dem Buch von Prof. Stemmann, welches wir zu Beginn des Aufenthalts alle käuflich erwerben sollten. Die Mitgliedschaft wurde uns „Absolventen“ ganz dringend ans Herz gelegt, um bei eventuellen Unsicherheiten zu Hause Ansprechpartner vor Ort zu haben, die einem wieder den richtigen Weg aufzeigen können.
TEIL 2 – NACH GELSENKIRCHEN
Ich bin mit der Anweisung nach Hause gegangen, das Programm jetzt mindestens ein Jahr so weiterzuführen. Ich sollte Kontakte nach außen weitgehend meiden. Kein Besuch bei Freunden, kein Besuch zur Familie, der Tagesplan musste strikt eingehalten werden.
Täglich musste eine 30-minütige Auszeit stattfinden. F. war dann ganz allein in ihrem Zimmer, und egal was darin passierte, egal was ich hörte, ich sollte nicht rein. Zur Erinnerung: meine Tochter war 7 Monate alt als ich mit diesen „Maßnahmen“ begann. Mein Kind weinte verzweifelt nach mir und ich bin nicht ins Zimmer. Ich hörte es krachen und scheppern, hörte wie der Kopf auf den Boden knallte und ich bin nicht ins Zimmer. Anfangs liefen mir jedes Mal die Tränen, aber ich musste stark sein, damit mein Kind gesund wird und nicht so schlimm erkrankt wie die Kinder in der Mäuseburg. Daran wollte ich nicht schuld sein und ich dachte weiterhin, dass ich das Richtige tat. Die Ekzeme verschwanden ja auch. Sie schien ihr Trennungstrauma zu überwinden und versuchte nur noch ihre verlorene Kontrolle über mich zurück zu erlangen. Logisch! Mein Mitgefühl für mein Baby wurde mit jeder Woche weniger. Immerhin lies ich ja nur ihre Manipulationsversuche ins Leere laufen. Dieses berechnende und ausgefuchste Kind!
Meine Tochter wurde vom Baby zum Kleinkind. Jedes Weinen, jedes Schreien, jede Unmutsäußerung interpretierte ich als Manipulationsversuch und wurde deswegen von mir strikt ignoriert. Sie lernte dann laufen. Wenn sie fiel, ließ ich sie liegen bis sie sich von selbst beruhigte. Zuwendung gab es nur für besonders „liebes“ Verhalten. Kein Kuscheln bei Aufforderung, sondern dann, wenn ich bestimmte, dass Zeit dafür ist. Und schon gar nicht als Trost oder Stressregulation. Meine Empathie für diesen kleinen, von mir komplett abhängigen Menschen war kaum noch vorhanden.
Mit der angeblichen Neurodermitis hatte das schon lange nichts mehr zu tun. Die Ekzeme waren relativ schnell nach dem Klinikaufenthalt verschwunden und ich habe darüber gar nicht mehr viel nachgedacht. Vielmehr war das Konzept des „Kindes als Tyrann“ derart stark in meinem Denken verankert, dass mein Handeln mir selbstverständlich vorkam.
Das änderte sich erst, als meine zweite Tochter auf die Welt kam. Sie ist drei Jahre jünger als F. Plötzlich hatte ich wieder diese natürliche Zärtlichkeit; diesen Instinkt, mein Baby vor allem beschützen zu wollen, zu stillen, zu tragen, bedingungslos zu lieben. Ich genoss das Kuscheln ohne Hintergedanken und ohne schlechtes Gewissen so sehr. Ich begann an meinem Umgang mit F. zu zweifeln.
Der Wendepunkt war dann der Zeitpunkt, an dem meine jüngere Tochter mit ca. 4 Monaten ebenfalls diese Ekzeme entwickelte. Bei dem Gedanken, mit ihr ebenfalls nach Gelsenkirchen gehen zu müssen, überkamen mich mit aller Wucht die Gefühle der ersten Aufenthaltswoche erneut. Das Gefühl der Hilflosigkeit. Das Gefühl, mein Baby beschützen zu wollen und es nicht zu schaffen. Das Gefühl, als junge Frau vorgeblichen Autoritäten ausgeliefert zu sein. Nie hätte ich zugestimmt, mit ihr nach Gelsenkirchen zu gehen und das Programm erneut durchzumachen.
Da erst wurde mir komplett bewusst, was im Umgang mit F. alles falsch lief. Ich begann zu verstehen, was ich meinem großen kleinen Mädchen seit diesem Klinikaufenthalt angetan hatte. Wie hatte ich diese offensichtlichen Absurditäten nur zulassen können? Warum habe ich nicht auf mich gehört? Wie konnte es sein, dass mir völlig fremde Menschen sagen konnten, wie ich MEIN BABY zu behandeln habe? Warum habe ich nicht für sie, nicht für uns einstehen können?
Ich versuchte, die bedingungslosen Gefühle für meine nun Dreijährige wieder zu fühlen und nach ihnen zu handeln. Leider war dies viel schwerer, als man meinen könnte. Immer wieder rutschte ich in die Gelsenkirchener Denkmuster des manipulativen, kleinen Tyrannen. Während ich die kleine Schwester intuitiv und selbstverständlich mit adäquater elterlicher Zuneigung tröstete, wenn sie sich weh getan hatte, etwas misslang oder sie aus anderen Gründen traurig war, blieb es meine ältere Tochter betreffend immer ein rationaler Akt. Selbst wenn F. sich weh tat und weinte, musste ich mir klar machen, dass sie mich NICHT manipuliert, dass sie ein kleines Kind ist, das einfach Trost braucht und eine Mutter, die den Schmerz weg pustet. Mein kleines Kind, das mich braucht, meine Präsenz, meine Aufmerksamkeit, meine Sicherheit. Viel zu oft ist mir dieser rationale Akt nicht gelungen und ich unterstellte doch wieder Manipulationsversuche. So wusste F. auch nie woran sie bei mir war und welche Reaktion sie von mir erwarten konnte. Bei meiner jüngeren Tochter sind die Ekzeme übrigens – genau wie bei F. – innerhalb weniger Wochen wieder verschwunden, was meine Schuldgefühle F. gegenüber noch verstärkte; anscheinend hatte es sich nie um Neurodermitis gehandelt. Ich hätte nur ein bisschen abwarten müssen und das alles wäre nie passiert.
Meine jüngere Tochter entwickelte sich komplett ohne psychische Auffälligkeiten. Bei F. sah das leider anders aus. Mit 14 Jahren entwickelte sie eine ausgeprägte Sozialphobie und Schulangst. Außerdem eine juvenile Depression. Diese wurde so ausgeprägt, dass die Notwendigkeit einer stationären Behandlung immer deutlicher wurde. Die Entscheidung, sie in einer Klinik aufnehmen zu lassen, war fürchterlich. Sofort hatte ich Gelsenkirchen im Kopf! Am Gedanken, dass ich nicht mitbekommen würde, was sie dort mit ihr machen und dass ich sie wieder nicht würde beschützen können, zerbrach fast mein Herz. Im wahrsten Sinne des Wortes. Wegen des Verdachts auf Herzinfarkt lag ich erst im Krankenhaus und war danach sechs Wochen zuhause.
Das Gute an dieser Episode war, dass F. und ich uns in diesen Wochen, in denen wir beide krankgeschrieben waren, so nah kamen wie nie zuvor. Ich erzählte ihr zum allerersten Mal die ungefilterte Version aus Gelsenkirchen. Und sprach über meine Sorge, jetzt eine falsche Entscheidung zu treffen. Und dann sagte meine mittlerweile 15-jährige Tochter zu mir: „Mama, dann entscheide ich jetzt. Ich gehe in die Klinik. Auf meine Verantwortung“.
Einige Wochen später bekam sie endlich den stationären Therapieplatz. Sie war drei Monate in der Klinik und es hat tat ihr wirklich gut. Zwischenzeitlich begann auch ich eine ambulante Psychotherapie, in der ich auch den Aufenthalt in Gelsenkirchen, verbunden mit der von mir dort erlebten Hilflosigkeit, aufarbeitete. Auch meine Schuldgefühle F. gegenüber und wie inkonsistent ich lange damit umgegangen war, konnte ich bearbeiten.
Unser Weg ist nach wie vor steinig, aber das Verhältnis zwischen F. und mir ist nun wirklich gut. Es kommt kaum noch vor, dass ich in alte Denkmuster zurückfalle. In den letzten Jahren handle ich fast ausschließlich nach meinem Herzgefühl, auch wenn das für Außenstehende manchmal so aussieht, als ließe ich zu viel durchgehen. Aber ich knüpfe meine Zuneigung nicht mehr an Bedingungen. Ich unterstelle ihr keine schlechten Intentionen mehr, wenn sie einfach sie ist. Und ich sehe, wie meine Tochter aufblüht. Wie sie lacht, wie sie vorsichtig Kontakte knüpft, sich wieder mehr zutraut. Wie sehr sie mein Vertrauen genießt und aufsaugt. Sie geht wieder in die Schule und schmiedet Pläne für die Zukunft.
Ich möchte gar nicht behaupten, dass die drei Wochen in Gelsenkirchen „schuld“ sind an unserem Leidensweg. Tatsächlich versuche ich das Konzept der Schuld, welches während des Aufenthalts allgegenwärtig war, hinter mir zu lassen. Aber mit welchen Augen und impliziten Vorurteilen ich F. die ersten Jahre gesehen und behandelt habe und wie sie anschließend mit meinem inneren Konflikt all die Jahre klarkommen musste, das kreide ich dem Gelsenkirchener Behandlungsverfahren an! Gelsenkirchen hatte einen viel zu großen Einfluss auf unsere Mutter-Tochter-Beziehung.
Ich würde gerne mit anderen betroffenen Familien in Kontakt treten. Das würde mir guttun, da mal zu reden. So eine Art Selbsthilfegruppe. Ich würde gerne hören, wie sich das Leben anderer Familien nach dem Aufenthalt so entwickelt hat. Ob sie auch zwei Zeitrechnungen haben. Vor und nach Gelsenkirchen.“
Bericht 2
Zitat:
ERFAHRUNGSBERICHT EINER MUTTER in der Kinderklinik Gelsenkirchen
Lest hier einen weiteren Erfahrungsbericht einer Mutter, die mit ihrem Kind 2017 stationär in der Kinderklinik Gelsenkirchen behandelt wurde. Aus Anlass der Ausstrahlung des Films „Elternschule“ stellt sie ihn auf diesem Weg allen Interessierten zur Verfügung:
„Meine damals zweijährige Tochter Z. hat schon immer wenig gegessen und überwiegend Milch aus dem Fläschchen getrunken. Ich machte mir deshalb große Sorgen, ob mein Kind ausreichend versorgt war. Ärztliche Untersuchungen waren aber immer unauffällig. Sie war zeitgemäß entwickelt, hatte die Meilensteine gut erreicht und die Perzentilenkurve im Untersuchungsheft verlief auch im normalen Bereich. Trotzdem empfahl unser Kinderarzt aufgrund des Essverhaltens eine Behandlung in der Kinderklinik Gelsenkirchen. So wurden wir dort im Jahr 2017 vorstellig. Das war kurz vor dem dritten Geburtstag meiner Tochter.
Drei Wochen Aufenthalt waren geplant. Ich hatte erwartet, dass ausschließlich das Essverhalten therapiert wird. Trennungssituationen waren problemlos möglich, die Eingewöhnung in den Kindergarten hat z.B. nur einen Tag gedauert. Wichtig für meine Tochter war immer, dass die Bezugsperson nett zu ihr war. Dann war eine Trennung nie ein Problem. Z. war ein überwiegend ausgeglichenes und fröhliches Kind, sie hat viel gesungen und getanzt.
Bei der Aufnahmeuntersuchung wurde dann aber nicht nur eine Essstörung, sondern außerdem eine Regulationsstörung diagnostiziert. Deswegen musste meine Tochter neben dem Esstraining auch das Schlaf- und das Trennungstraining mitmachen, um die Regulationsstörung insgesamt zu behandeln. Es hieß zudem, dass man das Essverhalten nicht kontrollieren kann, wenn man den Schlaf nicht kontrolliert.
Die Aufnahme erfolgte am Montag. Das Esstraining begann am Tag darauf. Ein gemeinsames Essen mit meinem Kind zu diagnostischen oder Anamnesezwecken fand nicht statt. Ich erinnere mich auch nicht daran, dass das Essverhalten von uns Eltern bzw. in der Familie in irgendeiner Weise erfragt worden wäre. Unsere ganze Familie hat nämlich ein tendenziell problematisches Verhältnis zum Essen. Erst im Rahmen einer Therapie, die wir nach dem Aufenthalt in Gelsenkirchen benötigten und begannen, wurde auf diesen Aspekt eingegangen.
Während der Mahlzeiten durfte ich weder anwesend sein noch durch ein vorhandenes Guckfenster beim Esstraining zusehen. Diesen Wunsch hatte ich ausdrücklich geäußert, aber mir wurde gesagt, dass dies auf keinen Fall möglich sei. Ich durfte auch keine Fragen zum Verlauf des Ess- und Schlaftrainings stellen. Ich habe aber gehört, dass meine Tochter jedes Mal viel geschrien hat. Wenn sie lieb zu Z. gewesen wären, hätte sie meiner Einschätzung nach niemals so geweint.
Ich bekam noch nicht einmal Auskunft darüber, ob und wieviel meine Tochter gegessen bzw. geschlafen hatte. Ich durfte ihr auch nichts zu essen geben oder auch nur über Essen mit ihr sprechen. Während der begrenzten gemeinsamen Zeit weinte mein Kind bitterlich und flehte mich um Essen an. Ich sollte ihr Betteln ignorieren. Ich werfe mir manchmal immer noch vor, mich da nicht widersetzt zu haben. Herr Langer äußerte nach mehreren Tagen, dass Z. vier Tage lang nichts gegessen habe. Die Milch, die sie üblicherweise zu sich genommen hatte, war ihr nicht angeboten worden.
Das Trennungstraining in der Mäuseburg war auch ganz schlimm. Es herrschte dort eine beängstigende Stimmung. Lauter kleine, verzweifelte Kinder und dazwischen, so sah es für mich aus, nur teilnahmslos lächelndes und mit Spielzeug hantierendes Personal. Ich musste meine Tochter mehrmals täglich dort abgeben.
Während die Kinder in der Mäuseburg waren, waren wir Mütter unter uns oder hörten als Gruppe Vorträge. Die Vorträge waren sehr stark auf Neurodermitis ausgerichtet. Immer wieder wurde gesagt, dass Kinder ihr Umfeld mit dem Kratzen nur manipulieren wollten.
Eine andere Mutter, die ein Baby mit Neurodermitis hatte und gleichzeitig mit mir auf der Station war, wollte die Therapie abbrechen. Sie hat mir erzählt, man habe ihr gesagt, dass sie bei Therapieabbruch schuld daran sei, wenn ihr Kind weiterhin Kortison bräuchte. Außerdem seien die Nebenwirkungen des Medikaments bei so kleinen Kindern gravierend. Sie hat den Aufenthalt dann aber doch abgebrochen.
Die Atmosphäre auf der Station empfand ich als generell negativ den Kleinkindern gegenüber. Nicht nur seitens des Personals, auch unter den Müttern fiel mir auf, wie der Umgang mit ihren Kindern von Tag zu Tag härter wurde. In den Gruppentherapien übertrumpfte man sich gegenseitig damit, wie manipulativ das eigene Kind sei und wie gut man das jetzt aushalte und nichts mehr durchgehen lasse.
Bei der täglichen Arztvisite musste meine Tochter allein zum Arzt ins Zimmer, wobei sie bitterlich weinte.
Meine Tochter hat sich dort verändert. Bereits nach wenigen Tagen Klinikaufenthalt kam sie mir wie ein „Zombie" vor. Sie war total teilnahmslos. Trotzdem habe ich die Behandlung noch weiter zugelassen. Ich hatte solche Angst um sie, aber das Personal hat so geschickt geredet, dass ich dachte, es muss sein, um meinem Kind zu helfen. Ich habe ihnen vertraut.
Nach einer Woche habe ich den Aufenthalt schließlich abgebrochen. Ich habe es nicht länger ausgehalten. Herr Langer bezeichnete meine nicht mal dreijährige Tochter im Abschlussgespräch als "gerissenes Kind". Sie würde alle Therapeuten gegeneinander ausspielen.
In der Zeit direkt nach dem Aufenthalt hatte Z. plötzlich Angst vor Trennungssituationen, die vorher nicht aufgetreten waren, zum Beispiel im Kindergarten oder sogar auch bei ihrer ihr vertrauten Oma. Ich sehe da ganz klar eine Verbindung zu dieser Mäuseburg.
Ich muss sagen, meine Tochter und ich haben den Aufenthalt auch nach fast zwei Jahren noch nicht verarbeitet. Ich will mir gar nicht vorstellen, wie es uns gehen würde, wenn wir das Programm weiter durchgezogen hätten. Ich bin nach wie vor erschüttert, dass so eine Behandlung erlaubt ist.“
Bericht 3
Zitat:
ERFAHRUNGSBERICHT EINER MUTTER in der Gelsenkirchener Kinderklinik
Eine Mutter, die ihren Namen nicht öffentlich machen möchte, hat uns ihren Fall geschildert. Sie war mit ihrem sechs Monate alten Baby aufgrund seiner starken Neurodermitis zur stationären Behandlung in der Gelsenkirchener Kinderklinik. Eigentlich waren drei Wochen Aufenthalt geplant, die Mutter hat die Behandlung aber schon nach wenigen Tagen abgebrochen, nachdem sich das Kind in einem Klinikzimmer namens „Mäuseburg“ unter Aufsicht des Klinikpersonals großflächig den Kopf blutig gekratzt hat.
Lest hier ihren Erfahrungsbericht:
„Vom 9. bis zum 12. April 2017 war mein sechs Monate alter Sohn K. wegen Neurodermitis gemeinsam mit mir in der Gelsenkirchener Kinderklinik stationär. Am Anreisetag fand zunächst ein kurzes Aufnahmegespräch mit einer Schwester statt. Alle Salben und Cremes sollten sofort abgesetzt werden, auch das Kortison, das üblicherweise ausschleichend abgesetzt wird. Ich nahm das erstmal so an und dachte nicht weiter darüber nach, da ich (noch) Vertrauen und große Erwartungen in den Aufenthalt in Gelsenkirchen hatte. Am Nachmittag fand ein Begrüßungscafé statt und die erwachsenen Begleitpersonen (ausschließlich Mütter, Väter habe ich nicht gesehen) wurden darüber aufgeklärt, dass die ersten Tage erstmal der Eingewöhnung dienten und die richtige Therapie am Mittwoch losginge.
Tag 1, Montag, 10.04.17
Am Montag fand eine Einführung in das Behandlungsverfahren statt und mir kamen die ersten Zweifel. Insbesondere die Aussage, dass sich die Kinder mit Neurodermitis kratzen dürften, bzw. sogar sollten, irritierte mich. Es hieß, dass das Kratzen dem Stressabbau diene. Eine weitere Aussage war, dass Kinder mit ihrer Neurodermitis nur Aufmerksamkeit erregen wollen. Wenn man das ignoriere, würden die Probleme verschwinden. Da ein Kratzschutz (Handschuhe) ein Zeichen der Aufmerksamkeit sei, sei er verboten. Ich meldete mich zu Wort und äußerte meine Zweifel. Ich wies darauf hin, dass z.B. der Juckreiz bei einem Mückenstich durch kratzen nur stärker wird und man sich dann in Rage kratzt bis es blutet und es dann brennt. Auf meinen Einwand erwiderte die Vortragende, dass es in den nächsten Tagen weitere Informationen dazu geben werde. Ich warf ein, dass ich bis dahin die Handschuhe noch dran lassen werde bis mir das ausführlicher erklärt werden würde.
Um 15 Uhr fand ein ärztliches Aufnahmegespräch statt, in welchem die Anamnese besprochen und auch Fragen zu meiner psychischen Verfassung gestellt wurden. Es wurde beispielsweise gefragt, ob es „einschneidende Erlebnisse“ in der Vergangenheit gegeben habe und ob ich meinem Sohn gegenüber schon einmal aggressiv geworden sei. Ich teilte der Ärztin mit, dass ich derzeit Stillprobleme hatte und fragte, ob es schlimm wäre, wenn ich K. hin und wieder Fertigmilch (PRE-Nahrung) gebe. Ich hatte deshalb Bedenken, weil ich gehört hatte, dass der Verzehr von Kuhmilch einen Neurodermitisschub auslösen kann. Diese Frage konnte von der Ärztin nicht beantwortet werden – ich wurde an die Schwestern weiterverwiesen.
Tag 2, Dienstag, 11.04.17
Am Dienstag wurde der Tagesablauf für die nächsten Tage erklärt. Dieser sollte wie folgt aussehen:
7:00 Uhr – 7:30 Uhr Muttermilch 7:45 Uhr Betreuung in Mäuseburg (Trennungstraining) während des Frühstücks 9:30 Uhr – 11:00 Uhr Schlafen 11:00 Uhr durch Personal wecken, wickeln, dann Mäuseburg (Trennungstraining) 11:30 Uhr Muttermilch (zunächst sollte Brei gefüttert werden, nach 20 Minuten dann erst Muttermilch) 12:15 Uhr Betreuung in Mäuseburg (Trennungstraining) während des Mittagessens 13:00 Uhr – 15:00 Uhr Schlafen 15:00 Uhr durch Personal wecken, wickeln, dann Mäuseburg (Trennungstraining) 15:30 Uhr Muttermilch 18:15 Uhr – 18:55 Uhr Betreuung in Mäuseburg (Trennungstraining) 19:00 Uhr Muttermilch, dann Nachtruhe 23:00 Uhr Muttermilch
Mir wurde gesagt, dass ich als Mutter schuld an der Neurodermitis sei, weil während des Geburtsvorgangs die Austreibungsphase zu schnell gewesen wäre und das Kind dadurch eine zu starke Bindung hätte, was das Trennungstraining notwendig mache.
Ab Mittwoch sollte K. also in die „Mäuseburg“ und nur noch fünf Mal am Tag – streng nach Plan – gestillt werden. Auch der Schlaf sollte nur noch nach Plan erfolgen. Ich wollte eigentlich nicht, dass K. das für alle Kinder obligatorische Trennungstraining mitmacht. Nachdem ich meine Ängste bezüglich der Mäuseburg und meine Befürchtung, dass man mein Kind dort schreien lassen könnte, geäußert hatte, tat Frau J. sehr verständnisvoll und empfahl mir, einen Termin mit einem Psychologen zu einem Einzelgespräch zu vereinbaren.
Des Weiteren sprach ich mit ihr über meine Stillprobleme und dass ich Angst habe, weniger zu stillen, weil dadurch die Milch noch weiter zurückgehen würde (Zur Erklärung – die Milchproduktion passt sich dem Verbrauch an. Wenn ich also weniger stille geht auch automatisch die Milchproduktion weiter runter). Dieser Angst wurde keine große Beachtung geschenkt. Angeblich hätte ich dann anstatt vieler kleiner Mahlzeiten eben fünf große. Sie betonte, dass ich das mache, um K. zu helfen und weil ich doch da wäre, um etwas zu verändern. Außerdem wurde mir geraten, den Kontakt nach Hause zu unterlassen und mein Telefon bei den Schwestern abzugeben, um mir selbst zu helfen. Ich war völlig außer mir und weinte, weil ich mich nicht verstanden fühlte.
Um 9.15 Uhr fand eine kurze Statusuntersuchung statt, bei der ich mich zwar im gleichen Raum wie K. aufhalten durfte, allerdings ohne von ihm gesehen zu werden.
Später am Vormittag wurde mir gesagt, dass mein sechs Monate alter Sohn durchschlafen müsse, da jedes Kind ab vier Monaten dazu in der Lage wäre. Ich zweifelte dieser Aussagen mit Nachdruck an und begründete meine Einwände. Ich wurde erneut an einen Psychologen verwiesen. Daraufhin wollte ich einen „richtigen Arzt“ sprechen. Dr. Lion kam zu mir und berichtete mir von seiner jahrelangen Erfahrung. Er forderte mich dazu auf, zu vertrauen. Auch er erklärte, dass wir ja stationär seien, damit meinem Sohn geholfen werden könnte. Ich versuchte anschließend ernsthaft, die Zweifel zur Seite zu schieben und den Klinikmitarbeitern zu vertrauen.
Am Nachmittag fand noch eine Einführungsveranstaltung in das Bindungs- und Trennungstraining statt. Ich fing während des Vortrages mehrfach an zu weinen. Ich sagte aber nichts und schluckte alle Bedenken herunter.
Ich erinnere mich, dass unter den Müttern ein starker Zusammenhalt herrschte. Viele verbrachten fast den ganzen Tag zusammen – man ging beispielsweise zusammen joggen und machte autogenes Training, während die Kinder beim Schlaf- oder beim Trennungstraining waren. Wir Mütter durften die Kinder nur zu bestimmten Zeiten sehen.
[Whatsapp-Nachricht, die ich an diesem Tag geschrieben habe: „Ich weiß nicht was ich sagen soll. Deshalb habe ich mich nicht gemeldet. Auch jetzt weiß ich es nicht! Mir geht es scheiße und ich weiß nicht ob ich das mit meinem Gewissen alles so vereinbaren kann!“]
Tag 3, Mittwoch, 12.04.17
K. war seit 6 Uhr wach, weil er Hunger hatte. Ich sollte aber erst ab 7 Uhr füttern. Ich versuchte ihn zu beruhigen, ohne Erfolg.
Um 7.45 Uhr habe ich ihn in der Mäuseburg abgegeben. Nach dem Frühstück gingen wir spazieren, wobei das Baby im Tragetuch einschlief. Als ich im Anschluss Frau J. fragte, wie ich nun die Sache mit dem Vormittagsschlaf handhaben solle, wurde mir gesagt, dass ich das Kind trotzdem hinlegen solle. Ich tat es. Während ich den Raum verließ, fing mein Sohn an zu weinen, da er ausgeschlafen war und langsam auch wieder Hunger bekam. Gestillt werden durfte er aber nicht. Ich hörte ihn vom Flur aus bitterlich weinen und brach selbst in Tränen aus. Die Schwestern hörten ihn zwar, kümmerten sich aber nicht um ihn. Sie rieten mir, wegzugehen, damit ich ihn nicht hören müsse.
Um 10 Uhr begann Dr. Lions Vortrag und ich hörte meinen Sohn vom Vortragsraum aus immer noch weinen und schreien.
[WhatsApp-Nachricht, die ich kurz vor Beginn des Vortrages geschrieben habe: „Ich höre ihn ganz bitterlich und verzweifelt über den Flur weinen. Niemand macht etwas. Das letzte mal gegessen hat er um 7 Uhr. Er hat Hunger und ich darf nicht stillen. Ich brech hier zusammen.“]
Als der Vortrag um 11.30 Uhr zu Ende war, holte ich K. aus der „Mäuseburg“ ab. Ich fand ihn auf einer blutigen Bettdecke, am Kopf mit schlimmen Verletzungen, die ich fotografiert habe. Das Klinikpersonal hat K. entgegen meinen ausdrücklichen Willen die Kratzschutzhandschuhe und den Schnuller weggenommen, als sie ihn vom Bett in die „Mäuseburg“ gebracht haben. Als ich den Raum betrat, saßen zwei Betreuer in der Mitte, als wenn nichts wäre, waren ganz still und lächelten die ganze Zeit. Um sie herum schätzungsweise zehn weitere Kinder, alle älter als K. und alle am Weinen. Ein Mädchen stand neben mir am Fenster, bemerkte mich nicht, weil sie so mit heulen beschäftigt war. Sie trommelte mit den Fäusten gegen die Fensterscheiben und ich sah ihr an, dass sie nur wegwollte und unfassbare Angst gehabt haben muss. Diesen Anblick werde ich wohl nie vergessen.
Ich nahm meinen Sohn schnell mit aufs Zimmer. Als wir uns beide etwas beruhigt und ich meinen Sohn gefüttert hatte, verlangte ich, jemanden zu sprechen, der zuständig war. Ich wurde an eine bestimmte Schwester verwiesen, die vorschlug, K. ins Bett zu legen. Auf diesen Vorschlag ging ich nach dem Erlebnis mit der „Mäuseburg“ allerdings nicht ein. Ich entschied, dass er bei mir bleiben sollte. Die Schwester ging mit uns in das sogenannte Wohnzimmer. Sie schlug vor, ihm den Schnuller noch in den nächsten Tagen zu lassen, die Handschuhe allerdings nicht. Obwohl ich äußerte, dass ich anderer Auffassung war, beugte ich mich der Meinung der Schwester.
Ich war zu diesem Zeitpunkt nervlich bereits stark angeschlagen. Ich beschloss schließlich, die Behandlung abzubrechen, da ich die Methoden als zu gefährlich für meinen Sohn einstufte. Ich hatte Angst. Ich rief meine Mutter an, die versuchte, mich zu beruhigen. Als sie versprach, am Telefon zu bleiben, traute ich mich zum Schwesterntresen und bat um eine Wundversorgung des Kopfes meines Kindes. Diese wurde verweigert, „weil das nicht so schlimm“ sei. Ich solle mich „nicht so haben“. Ich war völlig fertig und bat meine Mutter, mit der zuständigen Schwester zu sprechen. Ich gab ihr also mein Handy und meine Mutter sagte dieser, dass ich die Behandlung abbrechen will.
Zu dem eigentlich folgenden Vortrag bin ich nicht mehr gegangen, woraufhin Dr. Lion zu mir kam. Ich sagte ihm, dass die Methoden, die dort angewendet werden, in meinen Augen grob fahrlässig und gefährlich seien und an Kindeswohlgefährdung grenzen. Auf diese Aussage erwiderte er, dass es wohl wirklich besser sei, wenn die Behandlung beendet wird, da ein gegenseitiger Vertrauensverlust vorliege. Dem stimmte ich zu. Dr. Lion sagte noch, dass ich dann „einfach noch nicht so weit sei“ und verließ den Raum.
Ich ging mit K. im Tragetuch spazieren und er saugte meine Nähe förmlich auf und entspannte sich endlich. Auch sein Zittern hörte langsam auf. An den folgenden Tagen konnte ich K. keine Sekunde allein lassen, weil in ihm sofort die Angst wieder hochkam, dass ich weg sein könnte. Ich hatte jetzt nicht mehr nur ein krankes, sondern auch ein verstörtes Kind.
Am nächsten Tag wurden wir in einer anderen Kinderklinik vorstellig. Dort wurde eine Superinfektion des Köpfchens festgestellt und schulmedizinisch behandelt.
Zurück in Berlin erstatteten wir Strafanzeige gegen die Kinderklinik und informierten die Krankenkasse sowie die Ärztekammer. Das Strafverfahren wurde später eingestellt. Im Schreiben der Staatsanwaltschaft heißt es: „Sofern Sie mit einzelnen Behandlungen bzw. Vorgehensweisen nicht einverstanden waren, hätte es Ihnen oblegen, diese zu unterbinden bzw. – wie letztendlich auch geschehen – die Behandlung abzubrechen. Strafrechtlich relevantes Verhalten vermag ich Ihrer Strafanzeige und den uns überreichten Unterlagen nicht zu entnehmen“.“
Bericht 4
Zitat:
ERFAHRUNGSBERICHT EINER MUTTER in der Kinderklinik Gelsenkirchen
Hier ein Erfahrungsbericht einer Mutter, die selbst Ärztin ist und mit ihrem entwicklungsverzögerten Kind in der Kinderklinik Gelsenkirchen stationär aufgenommen wurde:
„Meine Tochter L. leidet unter einer genetisch bedingten, globalen Entwicklungsverzögerung. Sie war mit sechs Jahren geistig und motorisch in etwa auf dem Entwicklungsstand einer Zweijährigen. Um überhaupt Nahrung zu sich nehmen zu können, hatte sie, seit sie ein Jahr alt war, eine Ernährungssonde. Die Sonde verursachte mit den Jahren einen hohen Leidensdruck. Sie/ihr Körper war nun soweit, langsam an feste Nahrung herangeführt zu werden. Die sogenannte Sondenentwöhnung sollte in der Kinderklinik Gelsenkirchen durchgeführt werden, auf welche ich durch positive Erfahrungsberichte aufmerksam geworden war.
Meine Tochter hat aufgrund des komplexen Krankheitsbildes bereits mehrere Klinikaufenthalte hinter sich. Unter anderem haben wir, als L. zwei Jahre alt war, in einer Spezialklinik in Graz einen ersten Versuch der Sondenentwöhnung unternommen, was sich aber als deutlich zu früh herausgestellt hat. Für mich als berufstätige und alleinerziehende Mutter waren Klinikaufenthalte stets mit einem hohen Organisationsaufwand verbunden.
Vor dem Aufenthalt in Gelsenkirchen fand ein einstündiges Telefonat mit Herrn Langer statt. In diesem Gespräch wurde ein sechswöchiger Aufenthalt geplant. Selbstverständlich waren die Beeinträchtigungen meiner Tochter Thema, auch über den Pflegegrad wusste die Klinik im Vorfeld Bescheid. Das Telefonat war angenehm und mir kam das, was Herr Langer sagte, schlüssig und kompetent vor. Da ich selbst Ärztin bin, bin ich mit den Abläufen in Krankenhäusern gut vertraut. Somit begann ich damit, alles zu organisieren.
Bei der Ankunft am 14.02.2016 fiel mir sofort negativ auf, mit welcher ausgeprägten, gewollten Distanz auf unser Ankommen reagiert wurde. Die Schwestern begrüßten meine Tochter nicht einmal, obwohl sie immerhin sechs Wochen bleiben sollte. Auch meiner Bitte, meine Tochter kurz zu beaufsichtigen, während ich das Auto auslud, kamen die Schwestern nur sehr widerwillig nach.
Eigentlich hätte das Esstraining direkt losgehen sollen. Allerdings wurde mir schnell klar, dass das Konzept auf Kinder wie L. nicht ausgelegt war. Es war z.B. unklar, ob sie in der Altersgruppe 0-3 oder ab 3 verortet werden sollte, was für den Ablauf einen großen Unterschied gemacht hätte. Eine ausführliche Anamnese oder Analyse der Esssituation fand nicht statt. Ich hatte keinen Ansprechpartner, mit dem ich den Ablauf hätte besprechen können. Also bekam L. ihr Essen weiter ausschließlich über die Sonde. Dies war allerdings auch nicht so einfach, weil seitens der Klinik kein Angebot an sondierbarer Nahrung zur Verfügung gestellt werden konnte, mit welchem der erforderliche Kalorienbedarf hätte gedeckt werden können.
Ich weiß, dass das Konzept für L. auch Aufenthalte in der Mäuseburg vorgesehen hat. Ich habe aber vergessen, warum es letztlich doch nicht dazu gekommen ist.
Was die Schlafsituation anging stellte sich heraus, dass es kein passendes Bett für L. gab. Leider schien auch keines organisiert werden zu können. Für das Babybett war sie zu groß und in dem Bett für größere Kinder gab es keine Sicherungsmöglichkeiten. Zum damaligen Zeitpunkt hatte L. aber gerade erst begonnen zu laufen. Weil sie noch nicht sicher lief und stand, wollte ich sie nicht zu den Mittagsschlafzeiten dort allein lassen, da ich Sorge vor einem Sturz hatte. Eine Aufsicht fand für Kinder nur via Kameraüberwachung an einer zentralen Stelle statt. In unserem Patientenzimmer, in dem L. allein in ihrem Bett hätte bleiben sollen, gab es daher eine Kamera. Das Gefühl, potenziell überwacht werden zu können, fand ich extrem unangenehm.
Das Konzept forderte mittags ein wiederholtes „Sich-selbst-überlassen-Sein“ in der Schlafsituation über einen Zeitraum von mindesten 1,5 Stunden. Aufgrund des meiner Tochter fehlenden Gefahrenbewusstseins und der noch recht unkoordinierten Grobmotorik hätte ich das als grob fahrlässig und gefährlich empfunden und habe es aus diesem Grund auch abgelehnt. Die Therapeutinnen forderten mich dazu auf, L. trotzdem allein zu lassen. Als ich darauf entgegnete, dass die Klinik dann für eventuelle Verletzungen haften müsse, wandte sich die Stimmung plötzlich gegen mich. Das Team begegnete mir nach dieser Aussage unfreundlich bis feindselig.
Ich fühlte mich wirklich unwohl, nicht kompetent betreut und wusste nicht, wie es weitergeht. Ich konnte keinerlei Konzept erkennen, welches bei meiner sondenabhängigen Tochter die Lust auf Essen geweckt hätte. Daher bat ich um ein Gespräch mit den Verantwortlichen. Ich wurde von Dr. Lion, Herrn Langer und einer weiteren Psychologin mit verschränkten Armen empfangen. Mir wurde unterstellt, dass ich mich anscheinend nicht auf das Konzept einlassen könne. Ich sagte, dass ich das gerne würde, ich mir aber aufgrund der Gesamtsituation ziemlich verloren vorkäme. Es wurde mir gesagt, dass ich noch eine Woche zur Orientierung bleiben solle. Dann würde das Klinikteam entscheiden, ob ich mich hinreichend auf das Konzept einlassen und man mit mir und meiner Tochter arbeiten könne. Ich erklärte mich damit zunächst einverstanden. Am nächsten Morgen wollte ich mich zu den auf dem Plan stehenden Terminen einfinden. Ich wurde aber aus jedem Programmpunkt, an dem ich teilnehmen wollte, wieder hinausgebeten. Auf Nachfrage wurde mir bestätigt, dass ich in dieser "Orientierungswoche" an keinem der Programmpunkte (z.B. Autogenes Training und Seminare) teilnehmen dürfe. Sogar die Teilnahme am Gruppenspaziergang wurde mir verwehrt. Ein Grund hierfür wurde nicht genannt.
Wir blieben noch eine Nacht, dann brach ich den Aufenthalt am 20.02.2016 ab und entließ meine Tochter und mich aus der Klinik. In den Entlassungspapieren wurde vermerkt, dass die Entlassung stattfand, weil ich mich nicht auf das Behandlungskonzept einlassen könne.
Ich empfand diese Station, gerade auch als Ärztin, als eine völlige Parallelwelt. Ein solches Verhalten der dort arbeitenden Menschen kannte ich überhaupt nicht, die Atmosphäre wirkte schon sektenhaft. Die Grundannahme des Kindes als manipulativen, kleinen Tyrannen schwebte über der kompletten Station. Niemand betrachtete oder behandelte Kinder wohlwollend. Ich hatte den Eindruck, dass alle Kinder dasselbe Programm durchlaufen mussten - unabhängig davon, ob eine geistige und motorische Behinderung vorlag, es sich um eine Interaktionsproblematik eines zeitgerecht entwickelten Kinds handelte oder eine Essanfängerin wie L. das Essen überhaupt erst erlernen sollte. Sie alle wurden mit denselben Therapiebausteinen behandelt und galten als Strategen und potenzielle Tyrannen.
Ich habe die Vermutung, dass das Behandlungsverfahren für die Klinik lukrativ ist. Wegen der Beaufsichtigung überwiegend in Großgruppen und der Videoüberwachung scheint der Personalaufwand im Vergleich zu anderen pädiatrischen Abteilungen anderer Kliniken, die ich mit L. kennen gelernt habe, eher gering. Einzeltherapien gibt es nur in Ausnahmefällen. Abgerechnet wird der Aufenthalt aber als pädiatrische Komplexbehandlung.
Meiner Tochter ist dort zum Glück nichts Schlimmes passiert, aber gebracht hat es auch rein gar nichts. Den mehrtägigen Einblick in den Alltag der Station fand ich erschreckend. Für mich persönlich war es darüber hinaus eine sehr ärgerliche und frustrierende Erfahrung. Ich hatte einiges an Zeit und Kraft in die Vorbereitung und den Aufenthalt gesteckt - Zeit, die ich als alleinerziehende und berufstätige Mutter besser anderes investiert hätte. Außerdem hatte ich mich - zum wiederholten Mal - sechs Wochen von der Arbeit freistellen lassen, was mir nicht leichtgefallen ist. Nach der Erfahrung in der Klinik habe ich von einem weiteren Klinikaufenthalt zur Sondenentwöhnung abgesehen. Ein Jahr später hat L. mit meiner Hilfe begonnen, ohne Sonde zu essen.“